Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
Vom Netzwerk:
um die größten Karfiolköpfe und die mehligsten Erdäpfel. Auf der Praterhauptallee trafen sich die Gewichtheber der Straßenbahner Sportvereinigung zum letzten Frischlufttraining vor dem großen Kampf gegen die Germania. Lustlos dehnten und streckten sie ihre Glieder und blickten gähnend über die Kastanienbäume hinweg, wo die Riesenradgondeln in der Morgensonne glänzten. Im Keller der Gestapo-Dienststelle, in der ehemaligen Wäscherei des Hotels Metropol, mussten sich fünfzehn jüdische Geschäftsleute nackt ausziehen und mit den Händen über dem Kopf auf die Abholung zum Einzelverhör warten. In der Mitte des Raums waren ihre Kleider zu einem Haufen zusammengeworfen, dessen Spitze eine Mütze bildete, kariert und zerknautscht wie die Mütze eines amerikanischen Stummfilmkomikers. Am Gleis II des Wiener Westbahnhofs saßen vierhundertzweiundfünfzig politische Gefangene zusammengedrängt in den hinteren Waggons eines Sonderzugs und warteten auf die Abfahrt nach Dachau. Am gegenüberliegenden Bahnsteig saßen eine alte Frau und ein kleiner Bub nebeneinander auf einer Bank und bissen abwechselnd von einem großen Butterbrot ab. Hoch über ihnen, unter dem Bahnhofsdach, purzelten ein paar Schwalben aus einer dämmrigen Ecke, zischten ins Freie und verschwanden in Richtung Hütteldorf. Als das Pfeifsignal zur Abfahrt losschrillte und der Zug sich in Bewegung setzte, hüpfte der Bub von der Bank und lief winkend und lachend den Bahnsteig entlang. In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames: Alle Gefangenen an den Fenstern winkten zurück. Der Bub rannte bis zum Ende des Bahnsteigs. Dann blieb er stehen und legte seine Hand über die Augen. Noch von Weitem, als der Zug sich allmählich im Gegenlicht der Morgensonne auflöste, sah er aus wie ein riesiger, davonkriechender Wurm mit unzähligen winkenden Gliedern.
    Ungefähr um diese Zeit keuchte der Briefträger Heribert Pfründner mit seiner steinschweren Posttasche die Berggasse hinauf. Er schwitzte stark, hatte Bauchweh und immer noch den Geschmack des Frühstückskaffees seiner Frau im Mund: schal, fad und zudem ein bisschen bitter. So wie das ganze Briefträgerleben, dachte Heribert Pfründner missmutig, zumindest vor neun Uhr morgens. Seit die Nazis sich auch in der Postzentrale eingenistet hatten, bekamen die Wiener ihre Briefe bereits in aller Herrgottsfrühe, was zur Folge hatte, dass Heribert Pfründner wie die anderen Kollegen noch eine Stunde früher aus den Federn kriechen musste und der Kaffee ihm noch schaler, fader und bitterer im Magen herumzuschwappen schien, als er das in den letzten dreiunddreißig Dienstjahren sowieso schon getan hatte. Dabei könnte man jetzt auch an einem See oder Teich oder wenigstens irgendeinem nicht übermäßig von Gelsenschwärmen verseuchten Wienerwaldtümpel sitzen, seine geschwollenen Füße ins Wasser tauchen und an nichts denken, dachte er, oder zumindest am Donauufer liegen, das dritte Seidel Bier trinken und der Zeit zuschauen, wie sie träge an einem vorbeirinnt. Vor der Berggasse 19 lungerten wie immer seit einigen Wochen die beiden Zivilen herum, schiefe Gestalten mit zigarettengelben Gesichtern und schattigen Augen.
    »Heilhitler!«, murmelte der Briefträger und nestelte mit seinen schweißigen Händen am Schlüsselbund herum, um das Tor aufzusperren und zu den Briefkästen zu gelangen. Auch diesmal hielten sie ihn auf. Immer hielten sie ihn auf. Immer wollten sie wissen, was sich denn in der Posttasche befände. Immer ließen sie sich vor allem die an Professor Sigmund Freud adressierten Briefe zeigen, hielten die Umschläge gegen das Licht, entzifferten die Absender und versuchten mit ihren zigarettengelben Fingern den Inhalt zu ertasten. Und immer behielten sie einen oder mehrere davon bei sich. Heute waren es zwei: ein großer, schwerer Umschlag, mit zerfließender Füllfederschrift an den »Höchstverehrten Herrn Professor Dr. Freud« adressiert, sowie ein hellblaues Briefchen mit leicht abgestoßenen Kanten. Wahrscheinlich aus England, dachte Heribert Pfründner, oder vielleicht aus Holland, jedenfalls aus irgendeinem Land mit einer streng und doch irgendwie gütig dreinschauenden Königin auf den Briefmarken. Er sperrte auf, verteilte die Post schnell auf die Briefkästen und ging mit einem wortlosen Nicken. Längst waren die verdächtigen Briefe in den ausgebeulten Manteltaschen der Zivilen verschwunden. Und vielleicht, wer weiß, hatten sie ja sogar recht, dachte Heribert Pfründner, immerhin war

Weitere Kostenlose Bücher