Der Trafikant / ebook (German Edition)
dagestanden war, höflich verabschiedete, nur um am nächsten Tag pünktlich um Viertel nach zwölf wieder dazustehen und nach diesem Trafikanten zu fragen, begann der mühselig über viele Dienstjahre ausgebildete Berufsgleichmut des Portiers zu bröckeln, bis er endgültig in sich zusammenbrach. Und als Franz an einem flirrenden Montagmittag erneut vor ihm stand und sagte: »Grüß Gott, ich hätte gerne etwas über den Aufenthaltsort des Trafikanten Otto Trsnjek gewusst!«, antwortete der Portier nur mehr mit einem kaum wahrnehmbaren Zucken seiner Schultern. Dann griff er zum Hörer des schwarzen Telefons, das hinter ihm an der Wand angebracht war, wählte eine zweistellige Nummer und murmelte ein paar unverständliche Worte hinein. Etwa zehn schweigsame Sekunden später flog neben dem Telefon eine Tapetentür auf, und ein Mann in einem beigefarbenen Leinenanzug kam heraus. Er schien zu lächeln, als er auf Franz zuging, doch bei genauerem Hinsehen war es nur ein Schatten unter seinem hellblonden, fast weißen Oberlippenbärtchen. Ein Schattenlächeln, dachte Franz noch, da war der Mann schon bei ihm, riss ihm den Kopf an den Haaren zurück, drehte ihm mit einem blitzschnellen Griff einen Arm auf den Rücken und schleifte ihn durch die Eingangshalle ins Freie.
Franz spürte das Pflaster unter seinen Fersen und die Hand des Mannes, die sich wie eine Holzklemme um seinen Unterarm spannte, er sah den leicht bewölkten Himmel über sich und die drei Hakenkreuzstandarten. Dann gab es einen Ruck, sein Arm war plötzlich frei, und im nächsten Moment knallte er mit dem Gesicht auf den Boden. Er taumelte in ein schwarzes Loch und hörte ein merkwürdiges Geräusch. Wie ein feuchtes Zweiglein in der Glut, dachte er noch, bevor er versank. Als er einige Augenblicke später wieder ins Licht zurücktauchte, blickte er direkt auf die Schuhe des Blonden. Es waren glänzend geputzte Halbschuhe, aus weichem Leder gearbeitet und aufwändig vernäht. Kein Riss, kein Fleck, kein Staubkorn, nur feines, glattes, makelloses Leder. Franz hob den Kopf und blickte in das Gesicht des Mannes. Von hier unten, im Gegenlicht des Mittagshimmels, sah das Bärtchen aus wie flimmernder Bast. Neben ihm tauchte der blau bemützte Kopf des Portiers auf.
»Besser wird vielleicht sein, der junge Herr kommt nicht mehr hierher. Es könnte nämlich sonst passieren …« Er machte eine Pause, in der er sich umständlich räusperte und ein paar unsichtbare Körnchen aus den Augen blinzelte, »sonst könnte es nämlich passieren, dass er länger im Hotel Metropol zu Gast bleibt, als es ihm angenehm ist. Hat der junge Herr das denn verstanden?« Franz nickte. Der Portier zog ein schneeweißes Taschentuch aus seiner Brusttasche. Er entfaltete es sorgfältig, hielt es gegen das Licht wie ein Sonnensegel und betastete mit der Spitze seines Ringfingers den fein gestickten Saum und die akkurat gebügelten Falten. Dann bückte er sich, drückte es Franz zwischen die Finger und sagte: »Wisch dir das Blut aus dem Gesicht, Burschi. Und geh nach Hause.«
Erst als die beiden wieder im Gebäude verschwunden waren, presste sich Franz das Taschentuch gegen den Mund. Sofort tränkte sich der Stoff mit hellem Blut. Die Zunge war geschwollen und lag heiß und fremd in der Mundhöhle. Einer der Schneidezähne wackelte. Franz fasste ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen und zog daran. Mit einem kleinen Ruck gab er nach. Es war ein schöner, glatter Zahn. Nur die Wurzel war scharfkantig abgebrochen und blutig. Er würde ihn in die Schublade seines Nachtkästchens legen, dachte Franz, gleich neben die Karten und den Brief der Mutter und den kleinen Körper des aus der Nacht gefallenen Falters.
Drei Wochen später, am Morgen des 17. Mai 1938, kündigte sich der Sommer an. Ein angenehm laues Lüftchen trieb die Nachtkühle aus den Straßen und über die Donau weit in die Schwechater Ebenen hinaus. Überall in der Stadt gingen die Fenster auf, Decken und Polster wurden ausgeschüttelt, und Daunenfedern schwebten durch die Luft wie weiße Blüten. In der Früh standen vor den Bäckern die Schichtarbeiter und die Hausfrauen Schlange, und es roch nach frischen Semmeln und Kaffee. Die ersten Straßenbahnen quietschten träge aus ihren Remisen, und da und dort dampften auf dem Pflaster die Pferdeäpfel der Milchhaflinger. Am Naschmarkt hatten die Standler längst schon ihre Waren ausgelegt, und am alten Stand des noch älteren Herrn Podgacék stritten sich die ersten Pensionistinnen
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