Der Trafikant / ebook (German Edition)
Jüdische Kampfansage an England! Der Wettbewerb der Reichsbahnschützen findet in Wien-Kagran statt! Ein Kommunist bringt sich um! Noch einer! Und noch einer! Aber hatten sie es nicht auch ein kleines bisschen verdient, verehrte Leserinnen und Leser? Heute große Blumenschau in Favoriten! Eintritt für Kinder und Kriegsversehrte umsonst! Wo gibts denn so etwas! Der Prater wird von behördlicher Seite vom ausländischen Gesindel gesäubert! Heute Freibier für alle! Morgen große Flugschau! Kommen Sie alle! Sehen Sie sich das an! Bringen Sie Ihre Familie mit! Haben Sie heute schon gelacht? Unser Bild zeigt den Führer bei der Besichtigung der unüberwindbaren Atombunker! Das Wetter in der Ostmark: windig und leicht bewölkt! Heute im Theater: Lisa, benimm dich! (Komödie)! Morgen im Kino: Die kluge Schwiegermutter (Komödie)! Die Welt dreht sich! Alles ist gut! Im Lichtspielhaus wurde gestern ein Kind geboren! Es lebe hoch! Die Gestapo feiert Dienstjubiläum! Bald ist Muttertag! Bald ist Weihnachten! Wien, Wien nur du allein, du sollst die Stadt meiner Träume sein!
Franz blickte über die Stadt. Die Sonne stand tief, die Dächer glänzten, hie und da blitzte ein verirrter Sonnenstrahl herauf, und die Donau wand sich silbrig zwischen den Häusern hindurch und verschwand in den weiten, dunklen Auen. Dort irgendwo musste die Trafik liegen. Daneben die Votivkirche. Der Morzinplatz. Die Oper. Der Prater mit dem Riesenrad. Das Riesenrad, unter dessen Schatten jetzt gleich die Vorstellung beginnen würde. Jeden Moment würde der Echsenmann die Türen schließen. Das Narbenmädchen würde noch einmal über die von Bier und Schnaps feuchte Theke wischen und dann die Scheinwerfer anmachen. Monsieur de Caballé würde auf die Bühne kommen. Die Witze. Hitler. Der Hund. Das wunderbare Grammofon. N’tschina, das scheue Mädchen aus dem Indianerland. Alles wie immer, alles wie sonst. Er schloss die Augen. Was sollte man noch denken, an einem solchen Tag, in solchen Zeiten, alleine auf einem Berg, der gar kein Berg war, ein paar rote Käfer und eine verrückt gewordene Stadt zu Füßen? Alles war denkbar. Alles war möglich. Wer das Gesindel vom Straßenpflaster fegt und die jüdischen Ratten aus ihren Löchern bläst, wer Hakenkreuze ins Seeufer pflanzt und einen Dampfer »Heimkehr« nennt, wer Trafikanten erschlägt und Mütter auf ungemachte Betten wirft, wer tagsüber am Heldenplatz eine Legion von Händen gegen den Himmel reckt und abends brüllend durch die Gassen rennt, der würde auch das Riesenrad aus seinen Angeln heben oder eine kleine, grüne Grotte in den Erdboden stampfen.
Mit einem Mal spürte Franz einen Schmerz an seiner linken Hand, ein leichtes Brennen an den Fingergliedern, an Kuppen, Kanten und Knöcheln. Winzige Brandherde, die sich rasch vermehrten, sich zu feinen Glutlinien verzweigten: über das Handgelenk, den Unterarm, den Oberarm, die Schulter. Hunderte füllfederspitzenzarte, hell brennende Namenszüge. Anezka, dachte Franz, Anezka. Und dann lief er los. Verzweifelt stürzte er den Abhang hinunter. Der Boden unter seinen Füßen war weich und feucht, die Felsbrocken waren mit dunklem Moos überwachsen, und über ihm rauschten die Baumkronen. Er rannte, so schnell er konnte, und hörte seinen eigenen Atem wie das Keuchen eines Fremden. Und für einen Moment wusste er nicht mehr, ob die Zweige, die ihm ins Gesicht, gegen die Brust und an die Arme schlugen, Wirklichkeit waren oder ob er sich in seinem eigenen Traum befand, ob er hellwach oder träumend die steilen Hänge des Kahlenberges hinunterflog.
Die Vorstellung ging schon ihrem Ende zu, als Franz eine Stunde darauf atemlos und mit erdverklebten Schuhen die Grotte betrat. Die Echse reckte ihm ihr Köpfchen entgegen, erließ die Hälfte des Eintrittsgeldes und öffnete die Tapetentür. N’tschina hatte offenbar bereits ausgetanzt und die Bühne verlassen. In den bierstumpfen Augen der Männer glühte immer noch der Funken, den sie dort entzündet hatte. Im Scheinwerferlicht stand ein dicklicher Mann mit Halbglatze. Er trug einen zitronengelben Anzug, schwenkte seine Arme durch die Luft und sprach mit heiserer Fistelstimme ins Publikum. Hinter der Theke stand das Narbenmädchen. Ihr Gesicht flackerte im Kerzenlicht, die Narbe auf ihrer Wange sah aus wie gezeichnet, scharf und dunkel. Sie begrüßte Franz mit einem kurzen Nicken. An einem Tisch im Hintergrund saßen drei Männer in schwarzer Uniform. Einer von ihnen, ein jüngerer Mann mit weichen
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