Der Trafikant / ebook (German Edition)
allerdings, am frühen Abend an einem ganz normalen Wochentag war kein Mensch zu sehen. Niemand stolperte im Unterholz auf der Suche nach Ruhe oder Eierschwammerln herum, niemand schrie seinen Dackeln, seinen Kindern und seiner eigenen guten Laune hinterher, und niemand breitete seine Wolldecke aus, um eine späte Jause mitsamt den dazugehörigen warmen Bieren zu genießen. Franz war alleine. Und wenn der Kahlenberg auch nur die vom lieben Gott verpfuschte Nachbildung eines richtigen Berges war, war es doch irgendwie schön hier oben. Man konnte still vor sich hin denken, es roch nach Sonne und Wald und das sonst immer gegenwärtige Stadtgetöse drang nur als zarte Ahnung herauf. Nach dem kurzen Besuch in der Fleischerei war er zurück in die Trafik gegangen. Er hatte den zweiten Brief seines Lebens an die Mutter geschrieben, hatte dann die Sachen des Trafikanten, mit Ausnahme der Hose, feinsäuberlich in einen großen Zigarettenkarton gepackt, einen Zettel mit der Aufschrift HERRN OTTO TRSNJEKS LETZTE DINGE draufgeklebt und sie unter der Verkaufstheke verstaut. Er hatte die Kunden bedient, eine Lieferung mit Schulheften (vierzig Seiten, zwanzig Seiten, glatt, liniert, kariert, mit und ohne Rand) entgegengenommen und die hochwertigen Zigarren in ihren Kisten gewendet, um sie vor der Feuchtigkeit zu schützen. Vor allem aber hatte er seit Langem wieder einmal Zeitung gelesen, wenn auch nicht alle Blätter, so doch zumindest die meisten, und wenn schon nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zum größeren Teil. Pünktlich um sechs hatte er sich schließlich an die Tagesabrechnung gemacht. Aber schon während er den Stöpsel von Otto Trsnjeks Füllfeder abschraubte, war ihm irgendwie komisch zumute, und als er dann die ersten Zahlen in die Buchhaltung kritzelte, überkam ihn eine nie gekannte, schmerzhafte Sehnsucht, und seine Hand begann so heftig zu zittern, dass hintereinander drei dicke Tintentropfen von der Federspitze tropften und genau in der Mitte der Saldospalte drei stachelige, schwarzblaue Kleckse bildeten. Franz wollte hinaus, ins Freie, an die Luft, in den Wald, auf den Berg, selbst wenn der Berg nichts weiter war als ein Erdhaufen am Wiener Stadtrand. Er schraubte die Füllfeder wieder zu, machte sich nicht einmal die Mühe, mit seinem Schwämmchen die Tintenflecken aufzutupfen, sperrte die Trafik ab und eilte dem würzigen Ostwind entgegen, in Richtung Kahlenberg.
Der Baumstamm, auf dem er saß, war immer noch sonnenwarm und roch angenehm modrig. An einer Stelle krochen rote Käfer durcheinander, krabbelten unter ein fauliges Rindenstück, kamen wieder hervor, verschwanden wieder. Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, aber wenn es schon schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen. Er ließ einen der Käfer auf seinen Zeigefinger krabbeln. Sofort begann er wie wild um die Fingerkuppe herumzurennen. Behutsam setzte er ihn zurück aufs Rindenstück und sah zu, wie er im Gewimmel verschwand. Die Rücken der Käfer sahen aus wie kleine Ritterschilde, ihre Beinchen wie winzige, umherzuckende Buchstaben, die immer neue Worte, Sätze, Geschichten bildeten, während sie da so über den saftigen Kahlenbergboden krabbelten. Er musste an die Zeitungen denken, an die Schlagzeilen. So viel Aufregung, so viel gedrucktes Geschrei. Und doch war alles in Ordnung, schienen sie zu sagen, im Grunde genommen lief alles prächtig, wunderbar, hervorragend, ja geradezu fabelhaft! Natürlich wurde gerade Geschichte geschrieben – aber wann wurde das nicht? Umbrüche fanden statt – aber waren die nicht auch nötig? Staatsfeindliches Vermögen von Kommunisten und Querdenkern wurde beschlagnahmt – aber war das nicht nur gerecht? Jüdische Besitztümer wurden eingezogen, ihre Geschäfte geschlossen und von braven Bürgerinnen und Bürgern weitergeführt – aber waren das nicht einfach nur längst überfällige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in unserer gemütlichen Wienerstadt? In unserem duldsamen, gottgeliebten Staate Österreich? Es geht ja voran! Es ist ja was los! Es tut sich ja allerorten was! Eröffnung der Ausstellung Entartete Kunst im Künstlerhaus! Schockierend! Der Führer in Italien! Der Führer in München! Der Führer in Salzburg! Der Führer überall! Unglaublich! Mussolini hält eine Rede! Goebbels spricht in Düsseldorf! Toll!
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