Der Trafikant / ebook (German Edition)
öffnete seinen kleinen Kindermund. Seine Zähne waren schmal und gelb, das Zahnfleisch rosig wie die Fleischwürmer, die hinter ihm noch immer aus der Maschine krochen. »Und was haben wir damit zu tun?«, fragte er.
»Ihr habt seine Trafik beschmiert«, sagte Franz. »Ihr habt ihn beschimpft. Ihr habt ihn verraten. Und ihr habt ihn erschlagen!« Der Fleischermeister hob seinen schweren Kopf und starrte Franz stumm gegen die Stirn.
»Jetzt sag halt was!«, sagte seine Frau und wischte sich nervös ein paar Bröckchen Faschiertes von den Armen. Roßhuber hob die Schultern, ließ sie wieder sinken, schnaufte, zupfte seine Schürze zurecht, stierte vor sich hin, schnaufte noch einmal, schwieg.
»Vielleicht hat er ja nichts mehr zu sagen.« Franz trat einen Schritt zum Fleischermeister hin und blickte ihn an. Über die Marmorwangen huschten rosarote Flecken, wie letzte Wolkenfetzen nach einem Abendgewitter. In seinem Mundwinkel hing ein glitzerndes Spuckebläschen. Franz hob seine Hände und betrachtete die glatte Haut auf seinen Handrücken. »Die Mutter hat immer gesagt, ich hab ganz zarte Händ’. Zart, weiß und weich, wie von einem Mädchen. Ich hab das nie hören wollen, aber mittlerweile glaube ich, sie hat recht …« Er ließ seine Hände wieder sinken. Dann holte er mit der Rechten aus und verpasste dem Fleischermeister einen klatschenden Schlag ins Gesicht.
Roßhuber rührte sich nicht. Er rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Er stand nur da und stierte durch Franz hindurch, schwer, stumm und unbeweglich. Das Bläschen in seinem Mundwinkel war geplatzt. Seine Wange war leicht gerötet, und unter dem Jochbein waren zwei schmale Abdrücke zu sehen.
»Eduard!«, sagte die Frau mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht in die kühle Verkaufsraumstille hinein. »Eduard, jetzt mach halt was!«
Doch der Fleischermeister machte nichts. Erst lange nachdem Franz Otto Trsnjeks Hose unter den Arm genommen und die Fleischerei verlassen hatte, bewegte er sich wieder. Ganz langsam hob er beide Hände und ließ mit einem langgezogenen, dumpfen Stöhnen sein Gesicht in die Handflächen sinken.
Liebe Mama,
ich hätte Dir gerne wieder eine Karte geschickt (es sind ein paar neue gekommen, besonders imposante, mit Karlskirche, Geranien, Gloriette und so weiter). Aber gewisse Worte vertragen keine Bilder, sondern brauchen ein Kuvert. Weil ich es nicht besser sagen kann, sag ich es eben so wie es ist: Gestern ist der Otto Trsnjek gestorben. Sein Herz ist einfach stehengeblieben. Vielleicht hat es nicht mehr mitgewollt, mit dem ganzen Leben, mit der Zeit und mit allem anderen. Gemerkt hat er wahrscheinlich gar nichts. Ganz friedlich ist er eingeschlafen. Und zwar im Burgenland, dort wo er herkommt. Bitte liebe Mama, sei nicht traurig. Oder bitte sei doch traurig. Der Otto Trsnjek hat es nämlich verdient. Aber das weißt Du sowieso besser als ich. Ich bleib jetzt erst einmal hier. Weil: Was soll man denn sonst tun? Außerdem muss die Trafik weitergeführt werden. Unbedingt muss es weitergehen. Und es gibt ja auch wirklich genug zu tun. Alles rundherum ist irgendwie im Aufbruch, kommt mir vor. Hoffentlich bricht nicht alles auseinander. Was bleibt, ist der See. Die Berge und die Wolken werden sich länger darin spiegeln als die paar dürren Hakenkreuzstangeln, das kannst Du mir glauben! Liebe Mama, hiermit endige ich den traurigen Brief und umarme Dich herzlich,
Dein Franz
Die Stille und die Weite, dachte Franz, während er auf dem Kahlenberg in der Nähe der Stefaniewarte auf einem vom Blitz getroffenen, schwarzen Baumstamm hockte und auf Wien hinabblickte, die Stille und die Weite, das Klare und das Tiefe, das Dunstige und das Heimliche, die Sonne, der Regen, die Stadt, der See, der Berg. Wobei gerade dieser Kahlenberg natürlich kein Berg ist, dachte er weiter, zumindest kein ernstzunehmender Berg, wie es zum Beispiel der Schafberg ist, oder der Hochleckenkogel, oder gar das Höllengebirge. Im Salzkammergut würde der Kahlenberg höchstens als Hügel durchgehen, dachte er, wenn überhaupt. Eher als unwesentliche Erhebung, oder als Anhöhe, oder einfach nur als großer Erdhaufen mit ziemlich schütterem Waldbewuchs. Aber die Wiener denken da anders, dachte er weiter, für die Wiener gilt der Kahlenberg nicht nur als richtiger Berg, sondern noch dazu als der schönste, der höchste und als der vor allem an Sonn- und Feiertagen von der naturhungrigen Bevölkerung überrannteste Berg der gesamten Umgebung. Jetzt
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