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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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Gesichtszügen und käsiger Haut trug einen Dolch an einer Kette um die Hüfte, die aus einer Reihe silbriger Totenköpfchen bestand. Der Conférencier auf der Bühne erzählte einen Witz. Was man heutzutage eigentlich von einem Judenweib in Sachen Haushaltsführung erwarten dürfe, wollte er wissen. Jemand brüllte ihm die Antwort entgegen, alle lachten und klatschten, und der Zitronengelbe machte ein erstauntes Gesicht. Franz ging in einem Bogen um die Bühne herum und verschwand durch die Tür dahinter. Am Ende eines finsteren Ganges war eine weitere Tür. Ein Lichtstreifen schimmerte darunter hervor, und die Angeln knarrten leise, als er sie öffnete. Der Raum war winzig und hell erleuchtet, ein Geruch nach Schweiß und Schminke lag in der Luft. An einem Wandtisch saß Anezka vor einem von bunten Lämpchen umrahmten Spiegel. Sie trug immer noch ihr Kostüm, die Feder in ihrem Haar zitterte, als Franz eintrat. »Ah, der Burschi!«, sagte sie mit einem Lächeln und wischte sich mit einem Schwämmchen die Kriegsbemalung von den Wangen.
    »Anezka«, sagte Franz, und der Name fühlte sich seltsam fremd an, wie noch nie ausgesprochen. »Wo ist der Heinzi?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Weg. Mitgenommen von Gestapo.«
    »Warum?«
    »Wegen Witze. Und andere Sachen.«
    Franz starrte auf ihr Spiegelbild. An einer Stelle war ein Stück aus dem Glas gebrochen. Es sah aus, als hätte sie eine dunkle Kerbe an der Stirn.
    »Hast du schon ein Paket bekommen?«, fragte er leise.
    »Was für Paket?«
    Er schluckte. »Weiß nicht. Gar keins. Ist vielleicht auch Blödsinn …« Inzwischen hatte sie alle Farben weggewischt und fing an, eine Zeigefingerspitze weißer Creme auf Stirn und Wangen zu verteilen. Das Weiß gab ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes. Franz musste an die Totenmaske denken, die hinter dem Altar in der Nußdorfer Kapelle hing. Sie zeigte das Antlitz irgendeines Dorfheiligen, dessen Name und Herkunft sowie die Gründe seiner angeblichen Heiligsprechung über die Jahre verloren gegangen waren und der je nach Blickwinkel oder Lichteinfall wahlweise freundlich oder verschlagen in den Kirchenraum schaute und den Kindern während der Sonntagsmesse Angst machte. Eigentlich konnte ihn niemand leiden, aber bislang hatte sich noch kein Pfarrer getraut, ihn abzuhängen und im Kirchenkeller in der Kiste mit den alten, von der Zeit zerfressenen Gebetsbüchern zu verstauen, schließlich wusste man ja doch nie so genau, und sicher ist sicher, denn Gottes Wege sind unergründlich.
    Anezka hatte die Creme inzwischen eingerieben. Sie löste ein paar Haarnadeln, zog sich mit einer raschen Bewegung die Perücke vom Kopf und hängte sie an einen Haken neben dem Spiegel. Sie bürstete sich die Haare aus der Stirn und blickte Franz mit rosig glänzendem Gesicht an.
    »Wohin ist Zahn gegangen?« fragte sie.
    »Weiß nicht«, sagte Franz und befühlte mit der Zungenspitze das glatte Zahnfleisch in der Lücke. Anezka legte die Bürste weg, stand auf und trat nah an ihn heran. Er konnte ihre Schminke riechen, die Kohlepartikelchen an ihren Wimpern, ihre Haut, ihren Schweiß, ihren Atem.
    »Hast scheenes Loch im Mund!«, sagte sie und lachte. »Schaust jetzt aus wie ich!«
    »Ja«, sagte Franz und schluckte. Plötzlich fühlte er, wie sich ein kleines Schwindelgefühl in ihm ausbreitete. Vielleicht war es die stickige Luft in der Grotte. Vielleicht war er zu schnell gerannt. Er machte einen Schritt nach vorne und zwei Schritte nach rechts und starrte für einen Moment gegen die Wand. Komisch, dachte er, dass man sich in einem so kleinen Raum verirren kann. Die Wand war grob verputzt und fleckig. An einer Stelle steckte ein Haken, an dem ein ausgefranster Faden hing und sich leicht bewegte. Franz spürte sein Herz, ein großes, warmes Pochen in seiner Brust. Irgendwo am Kahlenberghang oder in den Wiener Außenbezirksgassen musste er es abgehängt haben und jetzt erst hatte es ihn wieder eingeholt. Der Faden hörte auf, sich zu bewegen. Das Schwindelgefühl war vorbei. Franz drehte sich um, ging die zwei Schritte zu Anezka zurück, legte eine Hand an ihre Wange und begann zu sprechen, sprudelnd und ohne nachzudenken: »Anezka, ich versteh es ja selber nicht, alle sind verrückt geworden, die Leute schmeißen sich von den Dächern, den Otto Trsnjek haben sie umgebracht, und wer weiß, was gerade mit dem Heinzi geschieht, die Juden hocken auf den Gehsteigen und putzen das Pflaster, als Nächstes sind die Ungarn dran oder die Burgenländer,

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