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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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weiß gar nichts mehr. Ich komme mir vor wie ein Boot, das im Gewitter seine Ruder verloren hat und jetzt ganz blöd von da nach dort treibt.«
    »Da haben Sie es eigentlich viel besser, Herr Professor«, fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu. »Sie wissen genau, wo Sie hingehen.«
    Freud seufzte. »Immerhin kommen mir die meisten Wege schon irgendwie bekannt vor. Aber eigentlich ist es ja gar nicht unsere Bestimmung, die Wege zu kennen. Es ist gerade unsere Bestimmung, sie nicht zu kennen. Wir kommen nicht auf die Welt, um Antworten zu finden, sondern um Fragen zu stellen. Man tapst sozusagen in einer immerwährenden Dunkelheit herum, und nur mit viel Glück sieht man manchmal ein Lichtlein aufflammen. Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder Dummheit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen!«
    Er verstummte, senkte den Kopf und blickte dann zum Fenster. Es hatte leicht zu nieseln begonnen. Die Blätter der Kastanie glänzten nass. Irgendwo knallte eine Tür, und jemand rief etwas Unverständliches. Danach war es wieder still.
    »Diese Kastanie …«, murmelte Freud. »Wie oft habe ich sie schon blühen gesehen …«
    »Gibt es in London auch Kastanien, Herr Professor?«
    »Ich weiß es nicht.« Freud zuckte mit den Schultern und sah Franz an. An den Rändern seiner Brillengläser konnte Franz sich selbst gespiegelt erkennen: ein dünnes Männlein mit grotesk verzogenen Gliedmaßen. Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Professors, er steckte seine Zigarre zwischen die Zähne, stieß sich mit beiden Fäusten von der Couch ab, kam irgendwie in die Höhe und stand eine Sekunde leicht wankend da. Dann ging er mit knacksenden Kniegelenken zur Zimmerecke, wo hoch über ihm der Weberknecht hockte.
    »Warum um alles in der Welt darf der hierbleiben, während ich, der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse, gehen muss!«, stieß er wütend hervor, reckte seinen Arm in die Höhe und schüttelte dem Tier drohend seine Faust entgegen. Der Weberknecht erzitterte kurz, hob ein Bein, setzte es wieder ab und bewegte sich nicht mehr. Freud blickte ihn eine Weile herausfordernd an. Schließlich ließ er seinen Arm sinken und starrte stumm gegen die vom Rauch angebräunte Tapete.
    »Ich glaube, so ein Weberknecht hat es bestimmt auch nicht immer leicht, Herr Professor!«, sagte Franz vorsichtig in die Stille hinein. Freud sah ihn an, als hätte er soeben etwas völlig Neues entdeckt, eine völlig unbekannte Lebensform, die sich während einer langen Abwesenheit auf seiner Couch ausgebreitet hatte. Mit einer müde flatternden Handbewegung winkte er ab. Dann nahm er einen Zug von seiner fast schon erloschenen Hoyo, bewegte sich mit kleinen Schritten zur Couch zurück und ließ sich langsam, wie nach einer ungeheuren Anstrengung, hineinsinken. Mittlerweile war es im Zimmer noch dämmriger geworden. Draußen grollte von weit her Donner heran, und die Kastanie schien sich in der Enge des Hofes zu ducken. Im Haus war es fast vollkommen still, nur hie und da drang ein gedämpftes Geräusch aus einem der entfernt gelegeneren Zimmer zu ihnen.
    Franz spürte die Atemzüge des Professors neben sich, manchmal begleitet von einem leisen Räuspern. Das Aneinanderreiben der Professorensocken war zu hören, kurz darauf eine Folge knackender Geräusche aus dem Parkettboden, das Knistern der Zigarrenglut. Dann wieder Stille.
    »Übrigens hab ich mir doch keines Ihrer Bücher gekauft«, sagte Franz. »Erstens sind sie ziemlich teuer, zweitens unglaublich dick, und drittens ist in meinem Kopf sowieso gerade kein Platz für solche Sachen.«
    »Allerdings habe ich Ihren Rat befolgt und angefangen, meine Träume aufzuschreiben«, fügte er hinzu. »Die meisten davon sind wahrscheinlich Blödsinn, aber ein paar komische sind schon dabei. Ich meine nicht zum Lachen komisch, sondern eher so merkwürdig komisch. Ich weiß nicht, wo die überhaupt alle herkommen. Weil ich mir nämlich nicht vorstellen kann, dass in meinem Kopf solche merkwürdigen Sachen ganz von alleine heranwachsen können. Oder was glauben Sie, Herr Professor?«
    Freud murmelte etwas Unverständliches und streckte seine Beine von sich. Franz kicherte: »Jedenfalls schreibe ich sie jeden Tag auf einen Zettel und klebe sie an die Auslage. Ob das was bringt, kann man noch nicht sagen. Für mich selber, meine ich. Aber der Trafik tut es gut. Die Leute bleiben stehen, drücken ihre Nasen gegen die Scheibe und lesen, was mir in der

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