Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
Vom Netzwerk:
den Waden, etwas kurz insgesamt, aber es ging. Als er fertig war, drehte sie sich um und nickte.
    Über mehrere fast leere Räume, in denen nur da und dort ein paar Kisten an den Wänden gestapelt waren, gelangten sie vor das Behandlungszimmer des Professors. Anna pochte dreimal mit den Fingerspitzen gegen die Tür, öffnete sie dann behutsam und bedeutete Franz mit einer knappen Kopfbewegung einzutreten.
    Er brauchte einige Augenblicke, um den Professor in dem bis auf wenige Möbel leergeräumten Zimmer zu entdecken. Er lag auf einer unförmigen Couch, den Kopf auf einem Haufen dicker Polster gelagert, den Rest des Körpers unter einer schweren Wolldecke verborgen. Im Raum befanden sich außer der Couch nur noch ein riesiger Kachelofen sowie eine Glasvitrine voller seltsamer Figuren, Männchen und Tierfratzen.
    »Was willst du denn hier?« Die Stimme des Professors hatte sich endgültig in das brüchige Knarzen eines morschen Astes verwandelt. Er schien abgenommen zu haben. Noch zerbrechlicher, als Franz ihn in Erinnerung hatte, lag sein Kopf auf den Polstern. Sein Kiefer sah aus, als wäre er irgendwie seitlich weggerutscht, und befand sich in ständiger Bewegung. Mit vorsichtigen Schritten trat Franz über das Parkett auf die Couch zu.
    »Sind Sie krank, Herr Professor?«, fragt er so leise, dass er sich für einen Augenblick selbst kaum zu verstehen glaubte.
    »Seit ungefähr vierzig Jahren«, nickte Freud. »Nur dass ich mittlerweile meine Zeit mit einer Wärmflasche auf der Couch verbringe, die eigentlich für andere bestimmt war. Übrigens würde ich dir gerne einen Sitzplatz anbieten, aber ich fürchte, unsere Sessel sind entweder bereits verschifft oder werden bereits von irgendwelchen strammen Nationalistenhintern eingesessen!«
    »Ich stehe gerne, Herr Professor!«, sagte Franz schnell. »Ich hab gehört, Sie fahren weg?«
    »Ja«, ächzte Freud und rappelte seine Knie unter der Decke zu einem spitzen Dreieck auf.
    »Wohin denn?«
    »Nach London.« Der Professor rückte seine Brille auf der Nase zurecht. »Wieso steckst du eigentlich in Annas Hose?«
    »Ihre Tochter war so freundlich … und da hab ich … ich bin ja über den Hinterhof … durch den Kohlenkeller … weil doch draußen die Gestapo sitzt …«
    »Die Gestapo …«, wiederholte der Professor, und es hörte sich an, als fiele ihm ein Brocken aus dem Mund.
    In diesem Moment wurde ihr Blick fast gleichzeitig nach oben gelenkt, wo sich direkt über der Couch ein Weberknecht seinen Weg über die Zimmerdecke zitterte. In einem weiten Bogen tänzelte er in eine Ecke, blieb stehen, wippte noch ein bisschen aus und rührte sich nicht mehr.
    »Ich hab Ihnen etwas mitgebracht!«, sagte Franz. Er zog das Päckchen unter seinem Hemd hervor, wickelte vorsichtig die drei Zigarren aus dem Kulturteil und bot sie dem Professor an. Freuds Gesicht hellte sich auf. Mit einem unerwartet lebhaften Schwung warf er die Decke zur Seite und setzte sich auf. Jetzt erst erkannte Franz, dass er einen Anzug trug: einen tadellosen Einreiher aus grauem Flanellstoff, mit Weste, gestärktem Hemdkragen und korrekt gebundenem Krawattenknopf. Aber keine Schuhe. Freuds Füße, klein und schmal wie Kinderfüße, steckten in dunkelblauen Socken, von denen der rechte in der Gegend des äußeren Großzehenrandes offenbar schon mehrmals gestopft worden war.
    »Eine für jetzt, eine für die Reise, eine für England, hab ich mir gedacht«, sagte Franz.
    Freud betrachtete die drei Zigarren mit einem sanften Wiegen seines Kopfes, schließlich nahm er eine davon mit spitzen Fingern und ließ sie in seiner Sakkotasche verschwinden.
    »Die ist für das Königreich!«, sagte er. »Die ersten Züge in Freiheit!«
    Er nahm die beiden anderen Zigarren, hielt sie gegen das Fensterlicht, betastete sie behutsam, machte einen tiefen Atemzug und presste, von einem begeisterten Rasseln begleitet, heraus: »Hast du schon einmal etwas so Herrliches, etwas so Wunderbares, etwas in seiner Unvollkommenheit so Vollkommenes zwischen den Zähnen gehabt?« Franz dachte an die Lianen, die er früher gemeinsam mit den anderen Buben aus dem Unterholz gerissen, mit Hilfe eines Taschenmessers in fingerlange Stücke geschnitten und auf dem Rücken liegend am Steg geraucht hatte. Der Geschmack war grausig, holzig und bitter, aber niemand ließ sich etwas anmerken. Stattdessen rauchten alle blass und still in den Himmel hinauf und versuchten den immer wieder neu aufkeimenden Hustenreiz zu unterdrücken.

Weitere Kostenlose Bücher