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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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großes Gedränge. Es wurde geschrien, geheult und gelacht, Menschen lagen sich in den Armen, küssten oder stritten sich ein letztes Mal, riefen sich durch die offenen Zugfenster etwas zu, fanden sich laut durcheinanderredend zu kleinen Gruppen zusammen oder standen alleine neben ihrem Koffer, mit verwirrtem Blick und einer hellblauen Fahrkarte in der Hand.
    Professor Dr. Sigmund Freud wollte aus irgendwelchen Gründen partout als Letzter einsteigen, doch seine Tochter schob ihn mit sanfter Gewalt vor sich her, die eisernen Stufen hinauf und in den Waggon hinein. »Lass mich, ich kann das alleine!«, sagte er, und das waren seine letzten Worte auf Wiener Boden.
    Anna blickte noch einmal über den überfüllten Bahnsteig. Das Stimmengewirr der Menschen schien unter der hohen Hallendecke immer weiter anzuschwellen, darüber gellte schrill die Pfeife zur Abfahrt. Ein verspäteter Reisender hastete zu seinem Waggon, ein paar Halbwüchsige fielen sich theatralisch in die Arme, Blumen, Hüte und Zeitungen wurden geschwenkt, und überall leuchtete aus dem Durcheinander das Rot der Hakenkreuzarmbinden heraus. Als sich Anna endgültig abwandte, um einzusteigen, wurde ihr Blick noch einmal abgelenkt. Ganz hinten am Eingang zur Ankunftshalle, inmitten des dichtesten Gedränges, stand regungslos der junge Trafikant. Er stand mit dem Rücken zur Wand, sein Gesicht war ungewöhnlich weiß, er schien in ihre Richtung zu blicken, doch seine Augen waren auf die Entfernung nicht zu erkennen. Die Pfeife schrillte erneut, der Schaffner gab das Signal zur Abfahrt, und Anna stieg ein. Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte und der Waggon mit einem schwerfälligen Rucken anrollte, atmete sie tief aus und lehnte ihre Stirn gegen die Scheibe. Das Glas war angenehm kühl, und als der Zug den Wiener Westbahnhof verließ, schien ihr die Nachmittagssonne direkt ins Gesicht.
    Es ging jetzt wieder einigermaßen. Irgendwie geht es ja immer. Zumindest schien das Schlimmste überstanden, das tiefste Tal durchschritten und die allergemeinsten Unterleibsschmerzen überwunden zu sein. Sogar die Halluzinationen waren fast verschwunden. Vor nicht einmal eineinhalb Tagen war Franz auf Zehenspitzen übers Parkett im Wohnungslabyrinth der Familie Freud geschlichen, hatte die Eingangstür gesucht, schließlich auch gefunden und so behutsam wie möglich hinter sich ins Schloss gezogen. Schon während er zum Abschied mit der Fingerspitze den Namenszug des Professors auf dem Messingschildchen neben der Ordinationsklingel nachzeichnete, war ihm irgendwie komisch im Bauch geworden, und als er kurz darauf am unteren Treppenabsatz angekommen war, hatte sich dieses komische Bauchgefühl bereits in eine überwältigende Übelkeit verwandelt. Mit dem tapsigen Gang eines Hundewelpen bewegte er sich durch den Hausflur, wobei er sich für einen Moment im Stollen des alten Salzbergbaus verloren glaubte, den er vor vielen Jahren mit der Volksschulklasse im Rahmen eines Tagesausfluges nach Gmunden besucht hatte. Damals hatte er immer wieder heimlich an den Stollenwänden geleckt, um das Salz der tiefen Erde zu kosten, war aber jedes Mal vom staubigen Geschmack der Steine enttäuscht worden. So schnell diese Erinnerungen gekommen waren, so schnell lösten sie sich nun wieder auf, und Franz wankte ins Freie. Der Regen prasselte ihm ins Gesicht, die Berggasse hatte sich in einen Sturzbach verwandelt, und aus den Kanaldeckeln blubberte eine braune Suppe. Die Bank war leer. Doch als Franz sich von der Türklinke, die ihm kurz als Haltegriff gedient hatte, abstieß, um sich auf den Heimweg zu machen, bemerkte er hinter dem dichten Regenschleier in einer Toreinfahrt auf der anderen Straßenseite eine schattenhafte Bewegung. Weiter geschah jedoch nichts. Vielleicht lag es am Regen, vielleicht aber auch am staatspolizeilichen Auftrag, einen Eingang zu bewachen und keinen Ausgang – Franz konnte es recht sein, und so ging er nach Hause, ein bisschen verkrümmt und schlingernd, ansonsten jedoch nicht weiter behelligt.
    Die Nacht und den nächsten Vormittag hatte er im Bett verbracht, unter ihm eine schwankende Tiefe und über ihm, auf dem Hintergrund der zerschlissenen Deckentapete, eine undeutliche Ansammlung merkwürdiger Gestalten, die wahlweise ihre Leiber aneinanderrieben, ihre Glieder umeinander schlangen oder ihre Mäuler aufeinanderpressten, ehe sie wieder auseinanderstoben und in der stickigen Zimmerluft verpufften. Manchmal waren seine Gedanken hinaus in den

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