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Der Trafikant / ebook (German Edition)

Der Trafikant / ebook (German Edition)

Titel: Der Trafikant / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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wieder ihre Haltung eingenommen: Kopf in den Nacken mit Blick auf die Tauben, hängender Kopf mit Blick aufs Straßenpflaster. Nach ungefähr fünfzig Metern bog er in die Porzellangasse ein und blieb stehen. Unter seinem Hemd knisterte das Päckchen. Die Hoyos dufteten sogar durch das Zeitungspapier hindurch. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Die Männer saßen unverändert da, grau und bewegungslos wie Denkmäler. Ihnen gegenüber, nur wenige Schritte neben dem Eingangstor zur Professorenwohnung, hatte ein Kohlehändler sein Geschäft. Die Holzverschläge zur Kellerluke standen offen, die Straße war fast bis zur Mitte der Fahrbahn eingeschwärzt vom Kohlestaub. Franz musste an Anezkas Wimpern denken. Schwarz, dachte er, schwarz wie das Herz des Teufels. Ein lauter werdendes Scheppern und das Getrappel schwerer Hufe kündigten einen Bierwagen an, der sich vom Donaukanal her näherte. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, die Pferde machten einen Satz nach vorne, der Wagen beschleunigte und holperte zügig die Berggasse herauf. Es war ein großer Wagen, beladen mit acht riesigen Fässern und zwei Lehrbuben, die ihre Beine von der Ladefläche baumeln ließen. Als der Wagen sich zwischen ihn und die Zivilen schob, lief Franz los. Geduckt trabte er neben den schulterhohen Rädern her, machte auf Höhe der Kohlenhandlung einen scharfen Schlenker und war mit drei Schritten an der pechschwarzen Luke. Er fasste die Einrahmung mit beiden Händen, schwang sich hindurch, glitt auf dem Hintern die kurze Kohlenrutsche hinunter, landete auf einem leise klackernden Bruchkohlenhaufen und sah sich um. Überall war Kohle: zu Haufen zusammengeschaufelt, in Säcke abgepackt, als Briketts zu glänzend schwarzen Mauern gestapelt, als vereinzelte Brocken überall auf dem Boden verstreut. Unter einem Fensterchen an der Rückwand stand ein schmutziger Schreibtisch, davor drei übereinandergeschichtete Kohlesäcke als Sitzgelegenheit. Franz stieg auf den Tisch, steckte seinen Kopf ins Freie und blickte in einen menschenleeren Hinterhof. Hohe, graue Mauern, in der Mitte eine alte Kastanie, da und dort ein offenes Fenster, ein paar verdrückte Geranien, der Geruch nach feuchtem Kalk, gekochtem Kohl und Gemeinschaftsklos. Franz zog sich hoch und kroch hinaus. Über eine niedrige Hoftür gelangte er ins Stiegenhaus der Nr. 19. Er ging in den ersten Stock, hielt kurz an, um seinen hämmernden Puls etwas zu beruhigen, und drückte dann auf die Klingel. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, nämlich genau siebenundvierzig Herzschläge, bis sich die Tür öffnete und im Spalt Annas schmales Gesicht erschien.
    »Guten Tag, ich hätte, bitteschön, gerne Ihren Herrn Papa, gesprochen!«, sagte Franz.
    »Mein Vater ordiniert nicht mehr.« Ihre Stimme war hell und weich. Ihre Augen waren braun wie die des Professors, nur etwas dunkler und ruhiger.
    »Ich komme ja auch nicht, um ordiniert zu werden«, erklärte Franz und reckte ihr angriffslustig sein Kinn entgegen, »sondern sozusagen als näherer Bekannter!«
    Anna Freud hob die linke Augenbraue. Franz hatte Menschen immer bewundert, die dieses Kunststück zustande brachten. In Nußdorf waren es, soweit er sich erinnern konnte, nur zwei: der alte Volksschullehrer Langelmaier und seine Mutter. Er selber hatte sich jahrelang bemüht, zuhause vor dem kleinen Spiegel oder am Ufer übers Wasser gebeugt, hatte aber im Grunde genommen nie mehr als eine merkwürdige Stirnverzerrung geschafft. Anna löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür. Sie trug einen fast bodenlangen, bis zum Hals zugeknöpften und ziemlich abgetragenen Wollumhang, eine Art Abend- oder Morgen- oder Hausmantel. Ihre Füße waren nackt.
    »Komm mit!«, sagte sie und ging voran. Durch das Wartezimmer und über ein kahles Vorzimmer gelangten sie in einen weiteren Raum. Anna öffnete das einzige Möbelstück, einen fast deckenhohen Kasten, in dem nebeneinander ungefähr zwanzig akkurat gebügelte Hosen hingen. Sie holte eine davon heraus, erdfarben und mit hoher Stulpe.
    »Zieh die an!«
    Jetzt erst fiel Franz auf, wie schmutzig er war. Der Rutsch in den Keller hatte seine Hose schwarz eingefärbt, und bei jedem Schritt sonderte er kleine Kohlenstaubwölkchen ab. Anna drehte sich zum Fenster, verschränkte die Arme und senkte leicht den Kopf. In der Spiegelung konnte Franz sehen, dass sie die Augen geschlossen hatte. Vorsichtig schlüpfte er aus seiner Hose und zog stattdessen ihre an. Eine Frauenhose, etwas weit an den Hüften, etwas eng an

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