Der Trafikant / ebook (German Edition)
sich etwas. Ein etwa daumengroßer, hölzerner Krieger stellte sich auf die Zehenspitzen, hob langsam seine Hand und winkte wie zum Abschied. »Das ist natürlich Blödsinn«, sagte Franz leise. Oder dachte er laut. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so müde und schwer gefühlt.
»Herr Professor?«, fragte er. Seine Stimme zitterte leicht, er hielt sich die Zigarre vors Gesicht und sah, wie die Glut vor seinen Augen verschwamm. »Sie kommen doch zurück, oder …?«
Der Professor gab keine Antwort, und als Franz ihn anblickte, sah er, dass er eingeschlafen war. Sein Atem ging gleichmäßig, beide Hände lagen ruhig in seinem Schoß, der Stumpen zwischen seinen Fingern war längst erloschen. Franz legte seine Hoyo im Aschenbecher ab und beugte sich über den Alten. Er wirkte unglaublich zart. Wie die Figuren in seiner Vitrine, dachte Franz. So als könnte er, würde er im Schlaf von der Couch auf den Parkettboden rutschen, in tausend Stücke brechen. Oder einfach zu Staub zerfallen. Sein Kopf war nach hinten gekippt, der Mund stand leicht offen. Seine Haut sah aus wie vergilbtes Papier, tausendmal zerknüllt und wieder auseinandergefaltet. Er lag völlig ruhig, nur die Augen zuckten immer noch unter den Lidern hin und her, als wollten sie sich nicht abfinden mit der Stille und der Dunkelheit, die sie umgaben. Franz nahm ihm den kalten Rest der Zigarre aus der Hand und legte ihn in den Aschenbecher. Behutsam stopfte er einen der kleineren Polster zur Stütze hinter den Nacken, zupfte mit spitzen Fingern seinen geknickten Hemdkragen zurecht, und blies sachte ein paar Ascheflöckchen von der Krawatte. Dann nahm er die Decke, breitete sie über seinen Körper und strich mit der Hand über die Wolle. Er verharrte noch fast eine Minute an der Couch und beobachtete die ruhigen Atemzüge des Professors. Als er das Zimmer schließlich auf Zehenspitzen verließ, blickte er noch einmal zur Decke hoch. Der Weberknecht war verschwunden.
Am Nachmittag des nächsten Tages – es war der 4. Juni des Jahres 1938 – verließ Professor Dr. Sigmund Freud im schütteren Kreise seiner engsten Vertrauten und Familienangehörigen Wien, die Stadt, in der er fast achtzig Jahre seines Lebens verbracht hatte, um mit dem Orient Express über Paris in sein Londoner Exil zu gelangen. Die Formalitäten waren erledigt. Die Ausreisegenehmigungen waren erteilt, die Reichsfluchtsteuer, fast ein Drittel des gesamten Familienvermögens, war bezahlt, und ein Großteil des Haushalts, der Möbel und der Antiquitäten war entweder eingeschifft oder wartete in einem Lager auf die Überführung nach England. Wieso trotzdem an die zwanzig Koffer, Kisten und Taschen mit auf die Reise kamen, war dem Professor ein Rätsel, wie übrigens auch die Tatsache, dass das meiste davon ihm persönlich gehören sollte. Viel zu viel Besitz für einen alten Mann, dachte er, während er den Reisetag wie im Traum an sich vorbeiziehen sah, nur unnützer Ballast auf der letzten Strecke eines langen Weges. Anna hatte das Kommando. Sie hatte die Geschehnisse im Blick und die Dinge in der Hand. Sie hatte die beiden großen Taxis zum Westbahnhof bestellt, sie organisierte die Gepäckträger, kaufte die Fahrkarten und schob dem Schalterbeamten ein paar Münzen für die Sitzplatzreservierung zu. In ihrer Handtasche hatte sie Pässe, Visa und sonstige Unterlagen aller Mitglieder der kleinen Reisegesellschaft verwahrt, und in einem großen Korb schleppte sie einige Stücke kaltes Selchfleisch, einen Topf eigenhändig zubereiteter Krautfleckerln sowie einen beachtlichen Haufen in Geschirrtücher eingewickelter und immer noch warmer Semmelknödel mit. Ganz unten im Korb, hatte sie zudem eine Flasche Wermuth und winzige Gläschen versteckt. Für die ersten Meter nach der Grenze, hatte sie sich gedacht, ein Schluck auf die Freiheit. Als das Grüppchen, begleitet von den neugierigen Blicken und dem vielstimmigen Getuschel der Leute, die Ankunftshalle durchquerte, brach Annas Mutter in Tränen aus. Anna reichte ihr ein Taschentuch, streichelte ihr über den Kopf und bedeutete ihr dann unmissverständlich, sich zusammenzureißen und einfach weiterzugehen. Sie hatte Wien nie so geliebt wie ihre Eltern. Allerdings auch nicht so gehasst. Im Grunde genommen hatte sie gar keine nennenswerten Gefühle für ihre Geburtsstadt, und die Ausreise war für sie nicht mehr und nicht weniger als die letztendlich doch noch gelungene Flucht vor den Nationalsozialisten. Am Bahnsteig herrschte ein
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