Der Trakt
hängen.
»Du hast dich verletzt«, sagte Haas zu ihm. »Mir scheint, du bist zu unvorsichtig.«
Sibylles Blick heftete sich wieder auf ihren Sohn. »Herr Professor«, sprach sie den großen Mann direkt an, »ich weiß nicht, was Lukas … gesehen hat, aber ich weiß ganz sicher, er wird keinem Menschen ein Sterbenswörtchen darüber sagen. Stimmt’s, Lukas?«
Der Junge nickte.
»Bitte, lassen Sie doch wenigstens ihn gehen. Ich weiß nicht, was mit mir ist und warum ich vergessen habe, wer ich bin. Wenn Sie Experimente machen wollen, stelle ich mich freiwillig zur Verfügung, egal, was es ist. Wenn Sie nur meinen Jungen gehen lassen. Tun Sie das? Bitte?«
Sekundenlang sah er ihr über die Entfernung von vielleicht fünf Metern in die Augen, und sie hatte die Hoffnung, er würde über ihren Vorschlag nachdenken. Noch immer war seine Miene unverändert. »Experimente, sagen Sie? Ich habe an Ihnen einen schöpfungsgleichen Akt vollbracht. Das als Experiment abzutun grenzt an Ignoranz. Sie werden mir alles bis ins kleinste Detail erzählen.«
»Bitte«, sagte Sibylle. »Lassen Sie meinen Sohn gehen.«
»Sie hätten besser auf Ihren Jungen aufpassen sollen. Jetzt ist es zu spät. Aber es hat auch sein Gutes. Sie sind der lebende Beweis für das Wunder, das ich mit Synapsia vollbracht habe.«
»Synapsia?«, fragte Rosie. »Was zum Teufel ist das?«
Haas betrachtete sie wie ein Insekt. »Synapsia ist das Wunderwerk, das die Welt verändern wird. Verbrecher werden binnen Stunden zu gütigen Menschenfreunden, aus einem Dummkopf wird ein Mathematikgenie und aus einem Geisteskranken ein normaler Mensch. Alle Möglichkeiten hier aufzuzählen wäre angesichts Ihrer beschränkten geistigen Kapazität unangebracht. Kommen Sie, ich werde Ihnen Synapsia zeigen.«
Er wandte sich um und zog Lukas mit sich.
»Beschränkte geistige Kapazität?«, schnaufte Rosie.
Hans wartete, bis Sibylle ihn erreicht hatte, und ging neben ihr hinter Haas und dem Jungen aus dem Raum. Das Bedürfnis, Lukas schützend in den Arm zu nehmen, war übermächtig in ihr.
Als sie in einen breiteren Flur einbogen, sah sie sich um. Rosie und Robert gingen gleich hinter ihnen. Sein Gesicht wirkte wie versteinert, und man sah ihm deutlich an, dass er an seinem Hass auf Rosie fast erstickte.
Oder an seinem Hass auf mich,
dachte sie.
Haas hielt vor einer Stahltür an, ließ die Finger über einen kleinen Kasten huschen und drückte seinen Daumen einige Sekunden lang auf eine quadratische, graue Fläche daneben. Mit einem langen, summenden Geräusch sprang die Tür auf. Haas streckte die Hand aus, stockte aber in der Bewegung und wandte sich schnell um. Auch Sibylle hatte den Grund für sein Zögern gehört.
Von irgendwo hinter ihnen kam ein dumpfes Geräusch, das sich anhörte wie Donnergrollen. Haas nickte Hans und Robert zu, die sich sofort auf den Weg machten.
Ein Gedanke schoss Sibylle durch den Kopf, doch als sie sich schnell nach Lukas umsah, musste sie erkennen, dass sie keine Chance hatte. Haas hatte seine Waffe von hinten gegen den Kopf des Jungen gerichtet.
Es dauerte eine Weile, dann hörte sie aus dem Flur das Geräusch schnell näher kommender Schritte. Sekunden später kam Oberkommissar Grohe um die Ecke, und Sibylles Herz machte einen Sprung. Grohes Gesicht wirkte sehr angespannt. Der Grund dafür war Martin Wittschorek, der nur einen Meter hinter ihm ging und eine Pistole auf seinen Rücken gerichtet hatte. Hinter ihm kamen Hans und Robert. Sibylle und Rosie tauschten einen schnellen, verzweifelten Blick.
»Was machen Sie hier?«, wandte Haas sich barsch an Wittschorek. »Und warum haben Sie den mitgebracht?«
Mit dem Kopf deutete er auf den Oberkommissar.
»Tut mir leid, Herr Professor«, antwortete Wittschorek und drückte den Oberkommissar ein Stück zur Seite, »die liebe Frau Wengler hat leider meinen Kollegen angerufen und ihm erzählt, ihre Freundin Sibylle Aurich wäre schon wieder entführt worden und in Lebensgefahr. Er hat daraufhin die Münchener Kollegen alarmiert und darauf bestanden, dass wir sofort hierherfahren. Es blieb mir nichts übrig, als mit ihm hierherzukommen, sonst hätte er jemand anderen mitgenommen. Ich gehe davon aus, Sie hatten schon Besuch?«
Haas nickte. »Sie waren da. Ich musste den Polizeipräsidenten anrufen, um die Sache zu klären. Sehr lästig. Ich erwarte, dass solche Pannen vermieden werden.«
Sibylle hätte losheulen können. Sie sah ein, dass es ein Fehler gewesen war, so kopflos bei
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