Der Trakt
Ohr, dass dieser schmerzhaft laute Schrei sie wieder ein Stück zur Besinnung kommen ließ.
Sie stützte sich irgendwo auf seinem Körper ab und richtete sich auf, bis sie auf seiner Brust saß und mit dem Rücken gegen seine Beine stieß, die auf dem liegenden Stuhl wie ein auf dem Kopf stehendes L nach oben standen. Als sie die Arme frei hatte, sah sie sein Gesicht vor sich und konnte nicht anders, als ihre Hände zu Fäusten zu ballen und hineinzuschlagen in diese Teufelsfratze.
»Du elendes, dreckiges Schwein!«, brüllte sie und schlug erneut zu, »was habt ihr mit meinem Kind gemacht?«
Der nächste Schlag landete auf seinem Mund. »Du hast es die ganze Zeit gewusst, du verdammtes Dreckstück!«
Und dann sagte sie nichts mehr. Sie keuchte nur noch und weinte und schrie und schlug. Wieder und wieder. Er blutete.
Egal. Soll er verrecken.
Sie wusste nicht, wie oft sie auf ihn eingeschlagen hatte, als ihre Faust sich nicht mehr zu seinem Gesicht bewegen ließ. Der erhobene Arm war blockiert.
»Hör auf«, hörte sie Rosies Stimme direkt neben sich. »Wir brauchen ihn noch.«
Sibylle sah nach unten, in dieses Gesicht, und spürte, dass alle Kraft sie verlassen hatte und sie ihren Oberkörper kaum noch aufrecht halten konnte. Voller Abscheu wälzte sie sich von Roberts Oberkörper, verharrte einen Moment auf allen vieren keuchend neben ihm und stand dann auf. Sie machte einen Schritt auf Rosie zu ließ sich einfach gegen sie sinken.
Lukas,
dachte sie immer wieder.
Lukas Lukas Lukas!
»Mein Kind …«, sagte sie. »Rosie, mein Sohn ist real! Ich habe es die ganze Zeit gespürt. Diese Schweine haben mein Kind entführt.«
Ihr Körper wurde von einem hemmungslosen Weinkrampf geschüttelt. Sie drückte das Gesicht gegen Rosies Schulter und ergab sich dem Schmerz. Rosie legte ihr die Hand auf den Kopf und schwieg. So verharrte sie eine Weile, atmete den Geruch von Rosies Pullover mit einem verblassenden Hauch von Parfum ein und hinderte ihre Gedanken nicht daran, immer wieder diese Szene abzuspielen, in der der tätowierte Arm ihren Jungen in das Auto zerrte und die Tür zuschlug. In der sie versuchte, hinter dem Auto herzurennen und irgendwann aufgeben musste.
Aber was ist dann passiert? Ich … ich bin stehen geblieben, als der Wagen abgebogen ist, aber
über das, was dann geschah, hatte sich ein dunkler Schleier gelegt, und sie schaffte es einfach nicht, ihn wegzuziehen.
Der Kerl hinter ihr bewegte sich fluchend auf dem Boden. Als sie daran dachte, dass Robert mitverantwortlich für die Entführung ihres Kindes war und wissen musste, wo ihr Sohn war und ob es ihm gutging, spürte Sibylle, dass sich etwas veränderte. Sie spürte eine Wut von solcher Kälte und Intensität in sich aufsteigen, wie sie es nie für möglich gehalten hatte. Es begann sich in ihr zu drehen wie ein Spiralnebel, dieses Gefühl einer kalten Wut, und in seinem Zentrum stand das Gesicht ihres Sohnes, das sie um Hilfe anflehte. Sie sah die panische Angst in seinen Augen und eine blau tätowierte Hand, die ihm den Mund zuhielt.
Für einen Moment schloss sie die Augen und ließ dieses Gefühl bis in den letzten Winkel ihres Bewusstseins vordringen. Als sie sie wieder öffnete, entdeckte sie auf dem Bett, was sie suchte. Sie nahm die Pistole und wandte sich dem noch immer auf dem Rücken liegenden Robert zu. Mit dem Daumen schob sie den Sicherungshebel zurück, wie sie es bei Rosie gesehen hatte, und richtete den Lauf auf den Kopf von Robert Haas. Die Spitze zitterte leicht.
Aber treffen würde ich trotzdem.
»Wo ist mein Sohn?«, fragte sie mit rauer Stimme. »Bei drei bist du tot.« Sie meinte es ernst, und sowohl Robert als auch Rosie schienen das zu spüren.
»Sibylle«, sagte Rosie leise, aber sie reagierte nicht darauf.
»Sibylle, bitte.«
»Eins«, sagte Sibylle tonlos.
Robert starrte stumm und mit geweiteten Augen auf die Pistole vor seinem Gesicht.
»Du wirst ins Gefängnis kommen, Sibylle, das ist dieser Dreckskerl nicht wert«, beschwor Rosie sie.
»Zwei.«
Rosie seufzte. »Lass mich das machen, ich bringe ihn zum Reden. Bitte.«
»Und dr… –«
»Nein, nicht!«, schrie Robert. »Nicht schießen. Er ist bei CerebMed, im Firmengebäude. Es geht ihm gut. Wirklich.«
»Was habt ihr mit ihm gemacht?« Der Lauf der Pistole zeigte noch immer auf Roberts Gesicht.
»Nichts, wirklich. Es geht ihm gut«, sagte er schnell. »Nimm doch dieses verdammte Ding von meinem Kopf weg.«
»Warum habt ihr ihn entführt?« Die
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