Der Trakt
absichtlich.«
Will sie mich hinhalten, bis die Polizei kommt? Nein, Elke ist ein herzensguter Mensch, und sie würde sich binnen einer Minute verraten.
Sibylle schloss die Tür und drehte sich um, ging auf Elke zu und blieb dicht vor ihr stehen. In den grünen Augen standen noch immer Tränen. Und noch etwas konnte sie darin sehen, einen fast flehenden Ausdruck.
»Ich bleibe.« Sibylle konnte den Blick nicht von Elkes Augen abwenden. »Und ich werde dir alles erzählen, was ich weiß. Oder was ich glaube zu wissen.«
»Möchtest du noch immer einen Cappuccino haben?«, wollte Elke wissen, als Sibylle kurz darauf wieder am Küchentisch saß.
Sie nickte und sah ihr dabei zu, wie sie Tassen aus dem Schrank nahm und den modernen Kaffeevollautomaten bediente. Was immer auch Elke mit dieser Geschichte zu tun hatte, sie war offensichtlich umgefallen, sie konnte es wohl doch nicht ertragen, ihrer ältesten und besten Freundin so etwas anzutun.
Aber irgendwie hat sie mit dieser Sache zu tun.
»Und jetzt … –« Mehr konnte Sibylle nicht verstehen, weil Elke in diesem Moment ein verchromtes Kännchen unter die Aufschäumdüse hielt, die mit ohrenbetäubendem Lärm ihren heißen Dampf in die Milch zischen ließ.
Sibylle schüttelte den Kopf und wartete, bis der Krach vorüber war: »Wie soll ich dich verstehen, wenn du redest und gleichzeitig die Milch aufschäumst? Zumindest in Punkto Schusseligkeit hast du dich nicht verändert.«
Elke stellte die dampfenden Tassen auf dem Tisch ab und setzte sich. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf ihrem Gesicht.
»Ich mach das ja nicht extra. Mir passieren häufig solche Dinge. Letztes Jahr auf Sylt, in einem Restaurant –«
»Da hast du versucht, eine Wasserflasche aufzufangen, gegen die du gestoßen bist, und hast den gesamten Tisch mitsamt Riesenhummer und der sündhaft teuren Flasche Weißwein abgeräumt, und dann hast du vor Schreck auch noch deinen Stuhl so heftig zurückgestoßen, dass du mit ihm nach hinten umgekippt bist. Und weil du dich an irgendetwas festhalten wolltest, hast du nach dem Tischtuch vom Nebentisch gegriffen und …«
Beide mussten lachen, und dieses Lachen, dieser kurze Moment der Unbefangenheit, tat unendlich gut.
Für eine Sekunde war alles in Ordnung. Sie saßen in Elkes Küche, tranken Cappuccino und lachten. Wie früher.
Wie früher?
Sibylles Lachen erstarb.
»Ich war doch dabei, Elke. Ich habe dir gegenübergesessen und hatte den Hummer auf dem Schoß liegen.«
Auch Elkes Lachen hörte abrupt auf, und ihre Augen wurden wieder feucht.
»Ja«, sagte sie leise, und dann noch einmal: »Ja.« Dann sah sie sie an, auf ihre ganz eigene, fast schon hilflose Weise. »Und im Jahr davor, an Weihnachten, beim Abendessen, die Sache mit der Gans, weißt du noch?«
Sibylle neigte den Kopf zur Seite.
»Wir haben seit Jahren nicht mehr an Weihnachten zusammen gegessen, Elke. Genau genommen, seit ich verheiratet bin.«
Elke senkte den Blick. »Es kann … entschuldigen Sie – entschuldige, es kann nicht sein! Du bist nicht Sibylle. Auch nicht Sibylle nach einem Unfall und einer Gesichts- OP . Du … du bist größer als Sibylle, und schlanker bist du auch.«
Größer als Sibylle.
Sie dachte an die Situation vor Elkes Wohnungstür und hätte am liebsten losgeheult, aber sie riss sich zusammen. Sie musste Elke klarmachen, dass sie Sibylle Aurich war, ihre Freundin. Die Mutter von Lukas.
»Ich verstehe es genauso wenig wie du, was da passiert ist. Wer weiß, eine Seelenwanderung oder so? Vielleicht, ja vielleicht stecke ich jetzt in einem anderen Körper oder so was, ich hab keine Ahnung. Aber ich weiß, wer ich bin. Gott, ich … ich weiß doch, wer ich bin!«
Sie sahen sich an, und beiden standen die Tränen in den Augen. Sibylle versuchte, in Elkes Gesicht zu lesen, und sie konnte deutlich den Kampf sehen, der in ihrem Inneren tobte.
»Es ist so … so verrückt.« Sie legte ihre Hand auf die von Sibylle, zögernd.
»Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir passiert ist. Wir waren zusammen beim Griechen, und auf dem Weg nach Hause habe ich wohl einen Schlag auf den Kopf bekommen. Gestern bin ich in einem seltsamen Raum aufgewacht, der eingerichtet war wie ein Krankenzimmer, aber keines war. Ein Kellerraum. Ein noch seltsamerer Arzt, der vielleicht gar keiner war, erzählt mir etwas von einer Kopfverletzung, und dass er mich einsperren muss, bis ich wieder
normal
bin. Ich konnte fliehen und bin von einer netten Frau nach Hause
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