Der Trakt
noch zögerte sie, dachte an Rosie.
Mache ich einen Riesenfehler? Aber was hab ich für eine Wahl?
Dieser Oberkommissar würde sie mit großer Genugtuung sofort festnehmen, wenn sie das Haus durch die Vordertür verließ, und dafür sorgen, dass sie ihm kein zweites Mal entwischte.
»Also gut«, sagte sie, während sie auf Rössler zuging. »Was machen wir jetzt?«
Er legte ihr die Hand auf den Rücken und schob sie mit leichtem Druck an sich vorbei auf die Tür zu, die in den Hinterhof führte. »Wir verschwinden schnellstmöglich von hier. Ich wundere mich sowieso, dass die Polizisten noch nicht reingekommen sind.«
Der Hof war eine etwa quadratische Betonfläche mit vielleicht zehn oder zwölf Metern Seitenlänge, die auf der linken Seite mit einer etwa zwei Meter hohen Kirschlorbeerhecke und rechts mit einem brusthohen Maschendrahtzaun auf bröckelndem Steinsockel von den Nachbargrundstücken abgegrenzt war.
Gegenüber sah Sibylle die »kleine Mauer«, von der Rössler gesprochen hatte: Sie war ein paar Zentimeter höher als der Zaun.
»Kommen Sie, wir müssen uns beeilen.« Wieder spürte sie den leichten Druck von Rösslers Handfläche in ihrem Rücken.
Mit schnellen Schritten überquerten sie den Hof. Die letzen Meter lief Sibylle an, legte dann die Hände auf den Mauersims und stieß sich vom Boden ab. Nur kurz ließ sie ihr Gewicht auf den ausgestreckten Armen ruhen, bevor sie mit einem Ruck auf der Mauer saß. Noch während sie ihre Beine über die Mauer schwang, wunderte sie sich, mit welcher Leichtigkeit sie das geschafft hatte.
Sekunden später kam sie auf dem Boden des Nachbargrundstücks auf. Rössler landete mit einem Satz neben ihr und warf ihr einen gehetzten Blick zu. »Los, weg hier!«
Sie hatten Glück. Das Gelände, auf dem sie sich befanden, war kein privater Garten, sondern schien vor einiger Zeit einmal eine Art Biergarten gewesen zu sein: Ein kreisförmiger Teil war gepflastert, einige Tische standen oder lagen noch herum. Auf der linken Seite stapelten sich entlang einer hohen, schmutzigen Mauer leere Getränkekisten, große, verbogene Gastronomiesonnenschirme mit verblichenen Werbeaufdrucken und zerbrochene Kunststoffstühle.
Rechts führte ein schmaler Weg an dem Gebäude vorbei.
Sie liefen los und standen kurz danach vor der Kneipe »Zum Stadteck«.
Sibylle sah sich um. In einer langen Schlange waren zu beiden Seiten der Straße Fahrzeuge geparkt, jeweils zur Hälfte auf dem Gehweg. Auf der anderen Straßenseite, etwa 100 Meter links von ihr, stand ein Mann. Er starrte vor sich auf den Boden und schien auf jemanden zu warten.
Im gleichen Moment, in dem sie sich des Gefühls bewusst wurde, dass er ihr bekannt vorkam, wusste sie auch, wer er war. Und sogar sein Name fiel ihr dabei ein. Wittschorek. Der Kommissar, der es nicht verhindert hatte, dass sie ihn mit seinem Kollegen und dem Hausmeister im Krankenhauskeller eingeschlossen hatte. Ihr Herzschlag, der in den letzten Minuten deutlich an Geschwindigkeit zugelegt hatte, beschleunigte sich noch mehr.
»Wir müssen sofort weg!«, stieß sie hervor und deutete nach rechts, »da lang! Da vorne steht einer von den Polizisten, die mich gestern mitgenommen haben.« Sie ließ Wittschorek dabei nicht aus den Augen.
»Sie sind von Polizisten mitgenommen worden?«, fragte Rössler überrascht. »Wann war –«
»Nicht jetzt!«, unterbrach sie ihn. »Lassen Sie uns gehen.« Sie riss ihren Blick von Wittschorek los, der offensichtlich noch immer keine Notwendigkeit sah, seine Umgebung zu beobachten, machte einen Schlenker an Rössler vorbei und marschierte mit schnellen Schritten los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Nach wenigen Sekunden hörte sie seine Schritte näher kommen, dann war er neben ihr. »Mein Auto steht zwar in der anderen Richtung, aber das kann ich auch später noch holen. Ich habe in einem kleinen Hotel in der Nähe der Altstadt ein Zimmer gemietet, nachdem diese Kerle mich heute Morgen zu Hause überfallen haben. Da wären Sie erst mal sicher.«
Sibylle dachte an Rosie und ob sie noch immer in ihrem Auto vor dem Haus stand und auf sie wartete?
Hat sie mittlerweile gemerkt, dass was nicht stimmt, und ist verschwunden? Oder hat Rosie von Anfang an gewusst, was passieren würde, weil sie selbst die Polizei gerufen hat?
»Ich kann mir vorstellen, was im Moment in Ihnen vorgehen muss«, störte Rössler ihre Gedanken.
»Glaube ich kaum«, sagte Sibylle, »ich weiß es ja selbst nicht. Können Sie bitte mal
Weitere Kostenlose Bücher