Der Trakt
nicht verstand. Auch das war ihr egal. Alles war egal. Wie durch einen Schleier nahm sie wahr, dass die Männer sie in ihre Mitte nahmen und mit sich zogen.
Es war, als beobachte sie nur, hätte aber nichts direkt mit dieser Szene zu tun.
Irgendwann blieben sie stehen, und sie schloss die Augen.
Eine Hand legte sich unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an.
»Wir werden dich jetzt loslassen«, sagte eine Stimme, von der sie glaubte, dass sie zu Christian gehörte.
Sie öffnete die Augen wieder, und es war wirklich Christians Gesicht, in das sie blickte.
»Du hast mich geküsst«, sagte sie. »Zweimal. Warum tust du mir das an? Wie kannst du mir das antun?«
»Ich hätte noch mehr getan, als dich nur zu küssen«, antwortete er, »wenn du nicht so prüde wärst, meine ich.« Es schien ihn zu amüsieren.
»Ich bin … verheiratet«, sagte sie, als müsse sie sich in diesem Moment, in dieser unwirklichen Situation, vor diesem Kerl rechtfertigen.
»Blödsinn!«, sagte er lachend.
Sibylles Körper straffte sich. »Blödsinn? Was soll das heißen, Christian?«
»Der Doktor wartet«, sagte im Hintergrund der Kerl mit den toten Augen und packte sie am Oberarm. Er drückte dabei nicht fest zu, so dass sein Griff ihr nicht weh tat. Sibylle spürte, dass die Kraft wieder in ihren Körper zurückgekehrt war, und wehrte sich gegen den Griff, aber als Christian auch noch an ihr zog, hatte sie dem nichts entgegenzusetzen und gab schließlich auf.
Sie bogen um die Ecke des Gebäudes und gingen ein Stück an der Rückseite entlang. Sie passierten ein Tor, das groß genug war, dass ein LKW hindurchpasste, und hielten vor einer schmalen Tür. Christian steckte einen Schlüssel in das Schloss und stockte. Er ging noch dichter an die Tür heran und fingerte an dem Schlüssel herum. Dann ließ er ihn los und versuchte es noch einmal, aber die Tür ließ sich offenbar nicht öffnen.
»Was soll das denn?«, schnauzte er und schlug mit der flachen Hand mehrmals gegen die Tür. »Welcher Schwachkopf hat den Schlüssel von innen stecken lassen? Verdammter Mist, wo sind die alle?«
Er wandte sich an den Kerl mit den toten Augen. »Du musst nach vorne gehen und von innen aufmachen.«
»Warum ich? Geh du, ich passe so lange auf Jane auf.«
»Jane?«, fragte Sibylle und fühlte sich dem Wahnsinn so nahe wie noch nie. »Wieso Jane?«
Danny … Jane?
Niemand beachtete sie.
»
Ich
passe auf sie auf«, blaffte Christian. »Ich möchte vermeiden, dass sie wieder unbemerkt einen kleinen Ausflug macht, so wie heute Morgen.«
Während seine Stimme immer gereizter klang, antwortete Hans noch immer völlig ruhig: »Du warst doch mit ihr auf einem Flur.«
»Aber ich sollte sie nur beobachten, während
du
dafür verantwortlich warst, dass sie keinen Unsinn macht, oder?!«
Sein Gesicht war jetzt gerötet. Mit hektischen Bewegungen griff er nach hinten und zog eine Pistole hervor.
Sibylle stieß einen spitzen Schrei aus, als er den Lauf der Waffe auf ihren Bauch richtete.
Sekundenlang sahen die beiden Männer sich in die Augen, dann sagte Hans: »Du weißt, der Doktor braucht sie. Wenn du ihr was antust, töte ich dich.«
Damit drehte er sich um und ging los. Beide sahen ihm nach. Als er hinter der Gebäudeecke verschwunden war, wandte Sibylle sich an Christian und sah die Fassungslosigkeit in dessen Gesicht. Offensichtlich nahm er die Drohung dieses Menschen ernst.
»Warum hat er mich Jane genannt?«
»Na, Jane Doe.« Er schien sich wieder gefangen zu haben, denn das widerwärtige Grinsen war binnen Sekunden zurückgekehrt. »Sag bloß, du kennst den Namen nicht? In Amerika nennen sie so die weiblichen Leichen, die sie nicht identifizieren können.«
Weibliche Leichen.
Sibylle spürte, dass ihre Knie wieder weicher wurden, aber sie beachtete es nicht weiter. Wenn sie zusammenbrach, lag sie eben auf dem Boden. Na und?
»Ist eigentlich irgendetwas von dem wahr, was du mir erzählt hast?« Wieder zeigte Christian sein höhnisches Grinsen. »Etwas Wahres, lass mich überlegen … Nun ja, was ich dir darüber erzählt habe, was wir mit dir gemacht haben, war wirklich maßlos untertrieben. Aber es ist wahr, dass wir dein Gehirn beeinflusst haben. Wie wir das genau –«
Von der Seite huschte ein Schatten heran und stoppte hinter Christian, der einen überraschten Schrei ausstieß, als eine Hand schräg hinter seinem Kopf auftauchte und etwas gegen seinen Hinterkopf drückte. »Nicht bewegen!«, sagte eine Stimme schneidend. »Ich drücke
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