Der transparente Mann (German Edition)
beschloss aber, die zwei in ihrer jungen Liebe nicht zu stören. Während sie die Turnschuhe auszog und dann in ihren flauschigen Pantoffeln in die Küche ging, fiel ihr auf, wie einsam ihr Leben ohne Alfs Nähe, seine Musik und die Gespräche beim Frühstück- oder Abendessen war. Erst jetzt, da er wieder einen Freund hatte, realisierte sie, wie selbstverständlich sie in den letzten Jahren seine ständige Anwesenheit hingenommen hatte.
Hungrig öffnete sie den Kühlschrank und entdeckte darin einen mit Plastikfolie abgedeckten Teller mit Kassler, Kartoffelsalat und einer Essiggurke. Bitte essen, stand auf dem Zettel, den Alf oben auf die Folie gelegt hatte, und Joe lächelte. Ach, Alf!, dachte sie liebevoll, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, kickte den Verschluss an der Tischkante weg und trank einen großen Schluck. Aus der Flasche schmeckte das Hopfengebräu einfach am besten. Ohne das Licht anzuknipsen, begab sie sich danach mit Bier und Teller ins Wohnzimmer, aber die frischen Lilien auf dem Tisch leuchteten ihr so weiß und hell entgegen, dass der Raum ihr nicht dunkel, sondern angenehm wohnlich erschien. Sie setzte sich aufs Sofa und dachte nach, nicht ohne Bitterkeit. Die sieben Monate mit Konstantin kamen ihr unwirklich vor, das Gefühl von Glück, Vertrauen und Wärme war so weit von ihr gerückt, dass ihr jene Zeit mit ihm wie ein Traum vorkam. In wenigen Wochen jährte sich ihr Geburtstag – hoffentlich war der Rosenstrauß, den Konstantin schon vor einiger Zeit in Auftrag gegeben hatte, abbestellt. Geistesabwesend schnitt sie das Kassler, aß vom Kartoffelsalat und ließ die Gespräche mit Julia Grafenberg, Alf, Marc und der Hausmeisterfrau noch mal Revue passieren. Sie fühlte sich verunsichert und zweifelte, ob sie Frauen wirklich den guten Dienst erwies, den sie mit ihrer Webpage beabsichtigte.
Die nahe Kirchturmuhr schlug elfmal. Die Geräusche der Straße waren fast verstummt, nur hier und da fuhr noch ein Auto vorbei, und wenn der Fahrer die Scheiben heruntergekurbelt hatte, um die laue Nachtluft eindringen zu lassen, klang beschwingte Musik aus dem Autoradio zu ihr empor. Müde stand Joe auf, reckte ihren schmerzenden Rücken und trug den leeren Teller in die Küche. Vierundzwanzig Heizkörper zu entlüften war Knochenarbeit. Alf zuliebe spülte sie den Teller noch ab und ging dann in ihr Zimmer. Sie gähnte, schaltete aber dennoch den Computer ein. Noch hatte sie keinen Entschluss gefasst, aber sie wusste, sie durfte damit nicht länger warten.
Sie wählte sich ins Internet ein, und eine fiebrige Anspannung machte sich in ihr breit, als sie ihre Webpage aufrief. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, ihr Computer war eindeutig zu langsam, dachte sie ungeduldig, dann endlich baute sich die Seite vollständig auf dem Fünfzehn-Zoll-Bildschirm ihres Laptop auf. Verwirrt starrte sie darauf. Es musste eine Halluzination sein! Erstaunt rieb sie sich die Augen. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen. In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenschwarm, aber was sie sah, war real. Über dreihundert Frauen hatten in der Zwischenzeit geschrieben. Über dreihundert Geschichten, für jeden Nutzer lesbar, manche sogar mit Bild von dem Mann, vor dem sie warnen wollten.
In tranceähnlichem Zustand hockte sich Joe auf ihren Stuhl, schaltete die verchromte Tischleuchte ein und begann mit steigender Faszination zu lesen. Ja, es war spannender als ein Krimi und der Einblick hinter die menschlichen Fassaden tausendmal besser als bei Big Brother. Schier unglaubliche Geschichten waren da aufgeschrieben, über Bigamisten, die sich Ehefrauen in zwei Städten hielten und jahrelang ein ungeniertes Doppelleben führten, bis ein Zufall alles aufdeckte, oder über vermeintliche Traummänner, die, anstatt ihrer Frau die Welt zu Füßen zu legen, nur die Liebe mit Füßen traten. Dazwischen gab es spektakuläre Outings über Transvestiten, Sodomiten, Swinger, Swapper, Sadisten, Voyeure und Exhibitionisten.
Fix und fertig von so viel Lügen und Betrügen, holte Joe sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Gab es denn wirklich nur völlig missratene Männer? Im Augenblick hatte sie das Gefühl. Vom angestrengten Blick auf den Bildschirm waren ihre Augen gerötet und brannten. Mittlerweile war es fast zwei Uhr in der Früh, und Joe nahm ihren Laptop mit ins Bett, da es sie drängte, immer weiterzulesen. Und je mehr sie las, desto mehr machte sich Erleichterung in ihr breit. Sie hatte richtig gehandelt. So viele Frauen, die
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