Der transparente Mann (German Edition)
unterbrach Joe sie abrupt. Sie empfand dieses Geständnis als zweifelhaftes Kompliment und stellte das Glas so hart auf den Tisch, dass sie im ersten Moment befürchtete, es zerbrochen zu haben. »Ich würde jetzt gern erfahren, was Sie wirklich von mir wollen. Hat Konstantin Sie vorgeschickt?«
Die hellrosa geschminkten Lippen ihrer Gesprächspartnerin zuckten leicht. Joe hatte ins Schwarze getroffen. »Es war eher meine Idee, Johanna, obwohl er weiß, dass Sie hier sind.«
»Mut und Aufrichtigkeit gehören nicht zu seinen herausragenden Eigenschaften.« Joe gab sich keine Mühe, den Spott in ihrer Stimme zu zügeln.
»Konstantin ist ein Künstler. Ein Künstler der Liebe. Sie sind verletzt, das verstehe ich sehr gut. Sie sind ja noch so jung. Aber Konstantin ist so, wie er ist, und ich bitte Sie um Diskretion. Mein Mann ist ziemlich eifersüchtig.« Sie machte eine kurze Pause. »Natürlich hat es mich durchaus amüsiert, dass eine Frau den Mut hat, Konstantin Paroli zu bieten. Diese Webpage finde ich sehr mutig, ganz ehrlich, Johanna, aber warum genießen Sie diesen Mann nicht einfach, anstatt ihn an den Pranger zu stellen? Oder Sie behalten die Zeit mit ihm einfach in schöner Erinnerung.«
Joes Gedanken überschlugen sich. Wie waren die zwei bloß so schnell dahintergekommen, dass sie der Verfasser der Webpage war? Sie hatte die Seite doch unter einem Pseudonym registrieren lassen. Vielleicht war das Ganze aber auch nur ein Trick, um herauszufinden, ob sie wirklich dahintersteckte?
»Sie sollten diese Webpage löschen. Sie bringt niemandem etwas Gutes.«
Für Joe sprach diese Frau mit trainiertem Charme und doppelter Moral. Sie war keinen Deut besser als Konstantin, und sie schienen sich wunderbar zu ergänzen. Joe hatte keine Lust, sich von ihr vorführen zu lassen.
»Sie irren sich. Diese Webpage ist nicht von mir«, antwortete Joe kühl und bemerkte mit Genugtuung eine Unsicherheit in den Augen dieser Frau. Die wissen nichts, dachte Joe erleichtert, überhaupt nichts! »Aber zum Glück gibt es offensichtlich Menschen, die anders denken als Sie und Konstantin«, fügte sie hinzu. Sie hatte keine Lust, dieses unerquickliche Gespräch fortzuführen, stand auf, fragte nach der Toilette, ging aber stattdessen in den Flur. Kurz überlegte sie, ob sie einfach dieses verlogene Haus mit seinen verlogenen Bewohnern verlassen sollte, nahm dann aber ihre Werkzeugtasche und begab sich ins Esszimmer.
Diesmal wollte sie ganz offiziell die Heizungen entlüften. Deshalb war sie bestellt worden, dafür wurde sie bezahlt, und diesen Auftrag wollte sie korrekt erledigen.
Während sie vor dem ersten Heizkörper kniete, erinnerte sie sich an die Situation mit dem Cognacglas und fragte sich, wieso sie damals nicht den Mut besessen hatte, sich zu ihrem Job zu bekennen. Alles hatte mehr Niveau als eine gelangweilte Hausfrau, die sich den Liebhaber wie eine Deutsche Dogge hielt, wobei der Ehemann nicht merkte, dass er den Nebenbuhler mit immer neuen Aufträgen satt und fett fütterte.
Joe öffnete das erste Ventil. Flüssigkeit zischte in den Becher, den sie ihrer Werkzeugtasche entnommen hatte.
»Warum tun Sie das?« Julia Grafenberg tauchte überraschend hinter ihr auf.
Joe drehte sich nicht um. »Weil es mein Job ist.« Sie schloss das Ventil und begab sich unbeirrt zum nächsten Heizkörper, während Julia Grafenberg ihren Bewegungen folgte und dabei sekündlich verkrampfter erschien.
Wie verloren wirkte sie plötzlich in ihrem eigenen Haus! Sie sah Joe mit sonderbarem Mienenspiel an, und mehr und mehr verflüchtigte sich ihre überlegene Maske. Sie ahnte, dass ihre Mission kläglich gescheitert war. Ihre Augen wirkten melancholisch, der Blick betroffen, und selbst ihre Stimme klang verletzlich, als sie wieder zu sprechen begann: »Johanna, Sie haben Recht, wenn Sie sich nicht selbst belügen wollen«, sagte sie ungewohnt offen. »An Lügen sollte man sich nicht gewöhnen. Nur weiß ich nicht, ob andere die Wahrheit wissen wollen.«
Kalt drang die Herbstluft durch ihren dünnen Pullover, als Joe kurz darauf zu ihrem Auto lief. Sie hatte vierundzwanzig Heizkörper entlüftet und die Anlage wieder mit Wasser gefüllt. In ihrer Werkzeugtasche lag der unterschriebene Stundenzettel. Julia Grafenberg hatte darauf bestanden, die gesamte Zeit zu bezahlen, wogegen Joe nicht protestiert hatte. Schließlich hatte diese Frau ihre Zeit beansprucht, sie waren keine Freunde, und ein kühles Bier wäre ihr lieber gewesen als
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