Der transparente Mann (German Edition)
Frau Huber, ganz modisch bemüht, zu dem dünnen Rock mit dem vorwiegend pinkfarbenen Blumenmuster trug. Der Kontrast stach Joe ebenso unangenehm ins Auge wie der dunkle Haaransatz, der offensichtlich gerade ebenfalls modern war. Trotz ihres reifen Alters von über fünfzig fühlte sich Frau Huber offenbar zwanzig Jahre jünger.
»Hallo, Frau Benk! Wissen Sie, wo mein Mann ist?«
»Kommen Sie mit, ich bin sowieso auf dem Weg nach oben.« Joe lächelte ihr auffordernd zu, aber das Gesicht der anderen Frau blieb angespannt, fast wie versteinert, sodass Joe es vorzog, jegliche Unterhaltung zu vermeiden. Schweigend stiegen sie drei weitere Stockwerke hinauf durch den Rohbau, bis sie in der Etage angekommen waren, in der Huber gerade vor Verteilungsleitungen kniete.
Seine Frau drängte sich an Joe vorbei. So schnell es in ihren dicken Boots überhaupt möglich war, schoss sie auf ihren überraschten Ehemann zu und versetzte ihm ohne jegliche Vorwarnung eine schallende Ohrfeige. »Du bist das Allerletzte! Von wegen Überstunden! Du betrügst mich – die ganze Zeit schon!«
Bestürzt wich Huber zurück. Auch Kulzer, Hoffmann und Marc unterbrachen ihre Arbeit und starrten wie Joe auf die Szene, die sich ihnen bot.
»Ich weiß, wo du deine Überstunden leistest. Ich kann es dir ganz genau sagen«, fuhr Frau Huber hysterisch fort, und ihre Stimme überschlug sich fast. »Nämlich im Bett. Und du … du sagst mir sofort, wie diese dunkelhaarige Schlampe heißt, mit der du dich jeden Tag triffst! Ich weiß, dass sie einen schwarzen Polo fährt! Also?«
Joe stand wie unter Schock. Der hilflose Blick ihres Obermonteurs tat ihr in der Seele weh, denn sie mochte Huber sehr. Seit sie ein kleines Mädchen war, arbeitete er in der Firma ihres Vaters. Ihm hatte Joe es zu verdanken, dass sie in einem Alter, in dem andere Mädchen stricken lernten, bereits Befestigungen hatte schweißen können. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Joe ihm den Ehebruch nicht verübeln, auch wenn er der Allerletzte war, von dem sie so einen Betrug erwartet hätte. Das war also des Rätsels Lösung: Jeden Tag, wenn Huber um Punkt sechs Uhr die Baustelle verlassen hatte, war er nicht nach Hause, sondern zu seiner Geliebten gefahren!
Auch Hoffmann und Kulzer sahen einander vielsagend an.
»Was heißt das, du willst mir alles erklären?«, keifte Frau Huber weiter, als ihr Mann sie in seiner ruhigen Art aufforderte, dieses Gespräch an einem diskreteren Ort fortzusetzen. »Da gibt es keine Entschuldigung. Es kann ruhig jeder wissen. Ist sowieso kein Geheimnis mehr. Steht ja klar und deutlich im Internet.«
»Im Internet?« Huber blickte seine Frau verständnislos an, bewegte sich aber trotzdem, gefolgt von ihr, in Richtung Treppenhaus. Joe nickte nur, als er sich ihr mit entschuldigender Miene näherte, und signalisierte ihm so ihr Verständnis dafür, dass er heute nicht mehr weiterarbeiten würde.
»Frau Bauer hat's mir zugetragen, und die hat es von ihrer Anna, dieser Fotografin. Da gibt es nämlich so 'ne Seite, und da werden solche Typen wie du geoutet.« Frau Huber bebte vor Wut. Doch langsam verhallte ihre durchdringende Stimme, und das war auch gut so, denn sonst hätte Joe sich die Ohren zuhalten müssen.
Ihr war plötzlich ganz flau im Magen, und das lag nicht am übermäßigen Alkoholgenuss des vergangenen Abends, sondern am bohrenden Schuldgefühl, das jetzt von ihr Besitz ergriff. Entsetzt ließ Joe sich vor den Steigleitungen auf dem Boden nieder. Sie schloss für einen Moment die Augen und saß wie gelähmt da. Alles drehte sich in ihrem Kopf, und es erschien ihr, als wären sämtliche Menschen in ihrem Umfeld entweder Betrüger oder Betrogene.
»Der Huber … Das ist ja ein Ding!«, hörte sie Hoffmann sagen, und bei aller Betroffenheit über die gerade erlebte Szene schwang doch ein Funke Respekt in seiner Stimme mit.
Kurz darauf vernahm Joe nur noch die vertrauten Arbeitsgeräusche, denn offensichtlich isolierten ihre Männer weiter, als wäre nichts geschehen.
Nur Joe vergaß für einen Augenblick den Termindruck. Sie dachte an Huber und an das, was er wohl gerade durchlebte, und auf einmal sah sie ihn mit anderen Augen. Wenn er nicht in seinem Blaumann steckte, war er für sein Alter ein durchaus attraktiver Mann. Joe erinnerte sich an das Oktoberfest im vergangenen Jahr, als ihr Vater die ganze Firma ins »Hypodrom« eingeladenen hatte. In seinen Ledernen war Huber bei den Frauen wahrlich gut angekommen. Selbst ihre
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