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Der transparente Mann (German Edition)

Der transparente Mann (German Edition)

Titel: Der transparente Mann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sixt , Barbara Wilde
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Vorstellung, ihm gleich gegenübertreten zu müssen, war ihr so unangenehm, dass Joe sich am liebsten im Bett verkrochen und die Decke über den Kopf gezogen hätte. Sie zog in Betracht, einfach wegzufahren, ihren Jahresurlaub zu nehmen oder, besser noch, den Urlaub der ganzen letzten Jahre – nach vier Monaten würde niemand mehr über die leidige Angelegenheit reden. Doch auch das fühlte sich nicht gut an, und Joe verwarf diese Möglichkeit wieder. Weglaufen war für sie noch nie eine Lösung gewesen. Sie musste das Problem anpacken. Je schneller, desto besser!
    Ihr Herz klopfte fortissimo, als sie die Baustelle erreichte. Sie jagte den Kastenwagen über den holprigen Boden, stellte ihn gleich neben der Einfahrt ab und sprang heraus. Noch einmal atmete sie tief durch und eilte mit großen Schritten auf das Gebäude zu, als im selben Moment ein Transporter der Firma Benk langsam von der Baustelle fuhr.
    Joe war klar, dass das nur Kulzer sein konnte, der auf dem Weg zum Großhändler war. Sie rief ihm nach. Doch er hörte sie offenbar nicht. Bemüht, ihn einzuholen, rannte Joe dem Wagen hinterher, denn sie hatte für Kulzer einen weiteren Zettel mit zusätzlich benötigtem Material dabei, den sie jetzt aus der Tasche ihres Hosenlatzes zog. Wild fuchtelte sie damit in der Luft herum und rief immer wieder, so laut sie konnte: »Halt! Halt!«
    Der Transporter fuhr jedoch in aller Seelenruhe vom Gelände und bog um die Ecke, obwohl Kulzer sie mit Sicherheit gesehen hatte. Völlig außer Puste gab Joe die Verfolgung auf und blieb stehen. Mit einer unguten Vorahnung drehte sie sich um und ging wieder auf das Gebäude zu, diesmal aber längst nicht mehr so resolut wie zuvor.
    Ein Pfiff durchschnitt die kühle Luft. Automatisch schaute Joe in die Richtung, aus der sie ihn vernommen hatte. Er kam von oben. Bauarbeiter saßen im Sonnenschein auf dem Gerüst, und bei näherem Hinsehen stellte Joe fest, dass es so gut wie alle waren, die auf dieser Baustelle arbeiteten. Zu zweit und zu dritt saßen sie gemütlich beisammen und waren in die Lektüre der meistgelesenen Münchener Boulevardzeitung vertieft.
    Erneut ertönte ein Pfiff. So messerscharf, dass Joe sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte. Immer mehr Arbeiter stimmten nun mit ein, abfällige Buhrufe mischten sich unter die lauten Pfiffe, bis Rufe und Pfiffe zu einem Konzert wurden, das Joe schrill in den Ohren klang. Sie wusste sich nicht anders zu helfen: Sie änderte die Richtung und flüchtete mit Riesenschritten ins Baubüro.
    Das »Corpus Delicti«, die Zeitung, lag groß und breit auf dem Besprechungstisch, sodass sie jedem, der das Büro betrat, sofort ins Auge springen musste. Joe ließ sich auf dem erstbesten Stuhl nieder, klappte in sich zusammen und war heilfroh, dass sich hier im Büro niemand außer ihr aufhielt. Hilflos starrte sie auf die fetten Buchstaben, die ihr strahlendes Gesicht auf dem Foto zu erdrücken schienen. Damals, im Restaurant auf dem grünen Hügel, hatte ihre Zukunft noch so rosig ausgesehen.
    Tränen schössen Joe in die Augen. Mit einer wütenden Bewegung fegte sie die Zeitung vom Tisch und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Nun hatte sie also ihre Schlagzeile, die sie sich das eine oder andere Mal gewünscht hatte! Ihre Gedanken waren Realität geworden. Joe fragte sich einen Moment, ob vielleicht allein ihr Wunsch dafür verantwortlich war. Diese Idee verwarf sie aber schnell. Träume und Wünsche ließen sich nicht kraft purer Willens- oder Vorstellungskraft verwirklichen, das hatte sie schließlich am eigenen Leib erfahren. So intensiv, wie sie über Monate hinweg die perfekte Zukunftsvision von sich und Konstantin vor Augen gehabt hatte, müsste sie andernfalls heute längst mit ihm verheiratet sein, gemeinsam mit ihm in seiner Villa leben und sich auf ihr erstes Baby freuen – den Golden Retriever in seinem Korb und den BMW X5 in der Garage nicht zu vergessen.
    Als Joe einen kühlen Luftstrom im Rücken spürte, zuckte sie zusammen. Die Tür des Bauwagens war aufgegangen. War vielleicht Huber gekommen, um sie zur Rechenschaft zu ziehen? Zum Glück war es nur Marc. Joe war jetzt froh darüber, und ihr fiel ein, dass Marc immer für sie da war, wenn es ihr schlecht ging. Sie blinzelte ihm zu, aber er sah sie nur mit diesem »Ich-hab-es-dir-ja-schon-immer-gesagt-Blick« an, den Joe nicht ertragen konnte. Deshalb stieß sie trotzig hervor:
    »Die können mich alle mal! Außerdem hat das mit der Arbeit nichts zu tun. Das ist

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