Der transparente Mann (German Edition)
Mutter hatte mit ihm getanzt. Joe fragte sich, wie alt seine Freundin wohl war und wie sie aussah. Eine Hand, die Joe auf ihrer Schulter spürte, riss sie plötzlich aus ihren Gedanken.
Marc stand direkt neben ihr und beugte sich zu ihr herunter. »Wenn du möchtest … ich habe heute Abend Zeit.«
Joe verstand, dass Marc mit ihr über die Webpage und ihre fatalen Auswirkungen reden wollte. Das war das Letzte, zu dem Joe sich nach diesem Schock imstande fühlte, denn sie wusste, dass sie Marc und seinen Argumenten in ihrem desolaten Zustand nicht gewachsen war.
»Lass uns ein anderes Mal was trinken gehen. Heute will ich nur noch heim«, antwortete sie und wich Marcs prüfendem Blick aus, doch er stellte den Irrtum klar:
»Ich dachte, da Huber für heute ausfällt, kann ich ja länger arbeiten. Sonst schaffen wir das alles nicht termingerecht.« Dabei machte er eine ausladende Handbewegung und zeigte auf die noch zu isolierenden Leitungen.
Sie nickte und bedankte sich kurz. Dann wandte sie sich ab, denn sie wollte Marc nicht die Chance geben, ihre Unsicherheit zu bemerken. Geschäftig zog sie einen halben Meter Klebeband von der Rolle, drückte es auf die Schnittstelle und strich es so lange glatt, bis sie sich ganz sicher war, dass Marc nicht mehr hinter ihr stand.
Es war draußen längst dunkel, und der Regen, der vor zwei Stunden eingesetzt hatte, war so stark, dass dicke Tropfen durch die noch fensterlose Wand bis zu ihnen herüberdrangen. Hoffmann und Kulzer waren längst nach Hause gegangen, denn es war schon nach neun, aber Marc und Joe arbeiteten immer noch Schulter an Schulter auf dem hohen Gerüst. Bisher hatte er keinen Versuch unternommen, mit Joe über die Webpage zu reden.
Die Auseinandersetzung der Hubers hatte Joe viel stärker getroffen, als sie sich eingestehen wollte, und sie fühlte sich zu einer Rechtfertigung genötigt, die niemand von ihr verlangt hatte. Erst zögernd und dann mit immer mehr Überzeugungskraft in der Stimme schilderte Joe den positiven Effekt, den das Outing ihres Hausmeisters letztendlich gehabt hatte, als wollte sie sich so selbst von der positiven Wirkung überzeugen. Dann erging sie sich in Spekulationen über Eheglück und der Möglichkeit, durch die Webpage www.der-transparente-mann.de zu lernen.
Marcs Reaktion war ernüchternd, denn er hatte seine Meinung in der Zwischenzeit nicht geändert. Im Gegenteil. Er war schockiert, dass Joe die Webpage noch immer stur verteidigte. Besorgt warnte er vor den möglichen Reaktionen der Entlarvten. »Hast du auch nur ein Mal darüber nachgedacht?«, wollte er ärgerlich wissen.
Als Joe trotzig und uneinsichtig blieb, packte er seine Sachen zusammen und machte Feierabend. Ohne ein weiteres Wort verließ er die Baustelle, denn er war von Joe, für die er sonst immer so viel Verständnis hatte, tief enttäuscht.
Joe war ebenfalls die Lust auf Arbeit vergangen, denn seit dem Gespräch mit Marc kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um Hubers mögliche Reaktion und die ihres Hausmeisters, falls beide durch Zufall doch noch erfuhren, wer hinter ihrem Outing und dem daraus resultierenden persönlichen Desaster steckte. Dabei blieb Joe dennoch von der positiven Langzeitwirkung ihrer Webpage überzeugt. Aber es leuchtete ihr ein, dass der Initiator die Wut der entlarvten Menschen auf sich ziehen würde, denn die Entdeckung ihres Geheimnisses hatten sie ja in erster Linie ihm zu verdanken. Und der Initiator war in diesem Fall nun mal sie selbst.
Würde Huber sie hassen?
Joe spürte die Gänsehaut, die ihren Körper überzog, und sie stieg ebenfalls vom Gerüst. Schließlich war es spät, und sie hatte das dringende Bedürfnis, mit Alf über all das zu reden. Danach würde sie vielleicht eine Entscheidung treffen können. Außerdem gab es Lammbraten mit Knödeln und grünen Bohnen. Beim Gedanken an dieses saftige Stück Fleisch mit Soße vergaß Joe kurz ihre Probleme, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Nein, Joe war nicht zur Vegetarierin geboren.
»Was hast du eigentlich davon, wenn du wildfremde Männer an den Pranger stellst?«, fragte Alf ruhig, als sie etwas später einträchtig vor dem niedrigen Tisch hockten, um genüsslich zu speisen. Es war einer dieser mittlerweile selten gewordenen Abende, den sie zu zweit und ohne Thomas verbrachten. Wie Marc vertrat Alf die Meinung, Joe sollte diese unheilvolle Webpage schleunigst löschen. Ja, er benutzte sogar ähnliche Argumente wie Marc. Das stimmte Joe zunehmend
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