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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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er hieß Omarino, wog vierundzwanzig, Omarino selbst fünfundzwanzig Kilo. Wie konnte Omarino mit diesem Gewicht auf dem Kopf kilometerweit durch den Urwald marschiert sein? Trotz der Narben auf seinem Rücken hatte erein fröhliches Gesicht und lebhafte Augen. Roger kaufte im Magazin eine Dose Suppe und eine mit Sardinen und gab sie Omarino. Von da an wich der Junge ihm nicht mehr von der Seite. Er begleitete Roger überallhin und war immer erpicht darauf, kleine Botengänge für ihn zu erledigen. Irgendwann sagte Víctor Macedo zu Roger, auf den Jungen deutend:
    »Der hat sie wohl ins Herz geschlossen, Mr. Casement. Warum nehmen Sie ihn nicht mit? Er ist Waise, ich schenke ihn Ihnen.«
    Dieses »ich schenke ihn Ihnen«, mit dem Víctor Macedo sich bei ihm einschmeicheln wollte, schien Roger aussagekräftiger als alles andere. Der Vorsteher konnte jeden Indio seiner Station einfach »verschenken«, weil ihm Träger und Sammler genauso gehörten wie die Bäume und Hütten, die Gewehre und Kautschukwürste. Er fragte Juan Tizón, ob irgendetwas dagegen spräche, dass er Omarino mit nach London nähme – die Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei würde ihn in ihre Obhut nehmen und sich um die Ausbildung des Jungen kümmern. Tizón hatte keine Einwände.
    Ein weiterer Schützling sollte einige Tage später ein halbwüchsiger Andoke-Indio namens Aredomi werden. Als Roger eines Morgens im Fluss badete, bemerkte er den Jungen, der mit ein paar anderen Kindern nackt im Wasser planschte. Sein Körper war wunderbar proportioniert, und er bewegte sich mit großer Geschmeidigkeit. Roger dachte, dass Herbert Ward eine herrliche Skulptur nach diesem jungen Indio geschaffen hätte, ein Symbol der Ureinwohner, die von den Kautschukbaronen und ihrer schönen Unschuld beraubt wurden. Er verteilte Konservendosen unter den badenden Kindern. Arédomi küsste ihm zum Dank die Hand. So unangenehm Roger das war, ging es ihm doch nahe. Der Junge folgte ihm bis zu seiner Unterkunft und redete gestikulierend auf ihn ein, nur Roger verstand ihn natürlich nicht. Er rief Frederick Bishop herbei, der für ihn übersetzte:
    »Er möchte, dass Sie ihn mitnehmen. Er wird ihnen zu Diensten sein, sagt er.«
    »Sag ihm, das geht nicht, ich nehme ja schon Omarino mit.«
    Doch Arédomi gab nicht nach. Er bewegte sich nicht mehr von Rogers Hütte weg und bedachte ihn mit flehentlichen Blicken. Roger beschloss, die Kommission und Juan Tizón zu Rate zu ziehen. Was hielten sie davon, wenn neben Omarino auch Arédomi mit nach London käme? Vielleicht könnten die Jungen seinem Bericht mehr Überzeugungskraft verleihen  – beide wiesen Narben von Peitschenhieben auf. Außerdem hätten sie so die Chance, der Sklaverei zu entkommen.
    Am Vorabend ihrer Abfahrt kam Carlos Miranda, der Vorsteher der Station Sur, nach La Chorrera. Ihn begleiteten etwa hundert Indios mit der dreimonatlichen Kautschuklieferung. Miranda war ein dicklicher, kalkweißer Mittvierziger, seine Ausdrucksweise und sein Benehmen deuteten auf eine bürgerliche Herkunft und eine höhere Bildung hin. Trotzdem war er allem Anschein nach nicht weniger blutrünstig als die übrigen Vorsteher. Insbesondere ein Vorfall war Roger und den anderen Kommissionsmitgliedern von verschiedenen Seiten zugetragen worden. Einige Monate zuvor habe eine alte Bora-Frau in einem Anflug von Wahnsinn oder Verzweiflung die übrigen Boras mit lautem Geschrei aufgefordert, sich nicht weiter erniedrigen zu lassen und gegen die Unterdrücker zu kämpfen. Wutentbrannt habe Carlos Miranda einem seiner Jungs die Machete entrissen, sich auf die Indiofrau gestürzt und ihr den Kopf abgeschlagen. Von ihrem Blut überströmt, habe er den Kopf in die Höhe gehalten und den entsetzten Eingeborenen erklärt, dass es ihnen so ergehen würde wie dieser Alten, wenn sie nicht ihre Arbeit täten. Und ebendieser Carlos Miranda stand jetzt vor ihnen, redselig und offensichtlich darum bemüht, sich bei Roger und den anderen anzubiedern. Umstandslos begann er, ihnen Witze und Anekdoten über die skurrilen Zeitgenossen zu erzählen, die ihm in Putumayo begegnet waren.
    Als Roger am 16. November 1910 endlich an Bord der Liberal ging, atmete er tief durch. Er fühlte sich ungeheuer erleichtert, ihm war, als würde die Abreise nach Iquitos seinenKörper und seinen Geist von einer Beklemmung befreien, wie er sie niemals zuvor verspürt hatte. Außer Omarino und Arédomi fuhren achtzehn Barbadier, fünf Indiofrauen und die Kinder von John

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