Der Traum des Kelten
englische Regierung ihn verdächtigte, aus Deutschland gekommen zu sein, um den Aufstand anzuführen. So wurde also Geschichte geschrieben! Er, der kam, um die Rebellion zu verhindern, wurde durch einen britischen Fehlschluss zu ihrem Anführer! Seit langem schon schrieb die britische Regierung ihm einen weitaus größerenEinfluss innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung zu, als es der Wirklichkeit entsprach. Vielleicht erklärte das die Hetzkampagnen der britischen Presse, die ihn während seines Aufenthaltes in Berlin beschuldigte, sich an den Kaiser verkauft zu haben, ihn als Verräter und Söldner bezeichnete und die ihm dieser Tage die schlimmsten Laster anzuhängen trachtete. Ein Rufmordversuch, mit dem ein Anführer vernichtet werden sollte, der er nie war und nie sein wollte. Die Geschichte war also letztlich nicht mehr als eine Form des Fabulierens, die sich wissenschaftlichen Anschein gab.
»Einmal hatte er hohes Fieber, und der Arzt sagte, er könnte vielleicht sterben«, nahm der Sheriff seinen Monolog erneut auf. »Aber Mrs. Cubert, seine Amme, und ich haben ihn gepflegt, ihn warm gehalten und ihn mit viel Geduld und Fürsorge durchgebracht. Nächtelang saß ich bei ihm, habe ihn am ganzen Körper mit Kampfer eingerieben. Das tat ihm gut. Es brach einem das Herz, diesen kleinen Kerl vor Kälte bibbern zu sehen. Ich hoffe, dass er nicht gelitten hat. Ich meine, in den Schützengräben dort in Loos. Dass er schnell gestorben ist, ohne es groß zu merken. Dass Gott nicht so grausam war, ihm ein langes Leiden zuzumuten, dass er nicht langsam verbluten oder am Senfgas ersticken musste. Er ist sonntags immer zum Gottesdienst gegangen, er hat seine christlichen Pflichten ernst genommen.«
»Wie hieß Ihr Sohn, Sheriff?«, fragte Roger.
Er hatte den Eindruck, der Wächter würde erneut zusammenzucken, als hätte er ein weiteres Mal vergessen, dass er nicht allein war.
»Er hieß Alex Stacey«, sagte er schließlich. »Wie mein Vater. Und wie ich.«
»Danke, dass Sie mir das sagen«, sagte Roger. »Wenn man den Namen weiß, kann man sich jemanden, den man nicht kennt, besser vorstellen. Alex Stacey ist ein schöner Name. Man denkt sofort an einen guten Menschen.«
»Höflich und hilfsbereit«, murmelte der Sheriff. »Ein wenig schüchtern vielleicht. Vor allem mit den Frauen. Ich habe ihnvon klein auf beobachtet. Unter Männern war er ungezwungen, aber Frauen schüchterten ihn ein. Er traute sich nicht, ihnen in die Augen zu schauen. Und wenn sie ihn ansprachen, fing er an zu stottern. Bestimmt ist er gestorben, ohne eine berührt zu haben.«
Der Sheriff verstummte und hing regungslos seinen Gedanken nach. Armer Junge! Wenn es stimmte, was sein Vater andeutete, hatte Alex Stacey nie die Wärme eines weiblichen Körpers gespürt. Die Wärme der Mutter, einer Ehefrau, einer Geliebten. Roger war immerhin, wenn auch nur für kurze Zeit, das Glück einer schönen, zärtlichen, sanften Mutter widerfahren. Er seufzte. Er hatte lange nicht an sie gedacht. Doch wenn es ein Jenseits gab, wenn die Seelen der Toten auf das vergängliche Leben der Sterblichen herabschauten, dann war Anne Jephson ohne Frage die ganze Zeit über bei ihm gewesen, dann hatten die Vorfälle in Deutschland sie ebenso getroffen wie ihn, hatte sie seine Enttäuschungen und das schreckliche Gefühl geteilt, sich geirrt zu haben, den Kaiser und die Deutschen – in seinem naiven Idealismus, mit seiner romantischen Ader, über die Herbert Ward sich immer lustig gemacht hatte – verklärt zu haben, indem er davon ausging, die Deutschen würden sich für Irland einsetzen, zu enthusiastischen Verbündeten seiner Unabhängigkeitsträume werden.
Doch, und ganz bestimmt hatte seine Mutter ihm auch während der fünf unsäglichen Tage in dem deutschen U-Boot beigestanden, als er sich auf der Fahrt von Helgoland zur irischen Küste in seiner Kabine vor Schmerzen und Übelkeit krümmte. Nie zuvor hatte er sich so elend gefühlt, körperlich wie moralisch. Außer winzigen Schlucken Kaffee und ein paar Bissen Brot konnte er nichts bei sich behalten. Der Kapitän des U 19, Oberleutnant zur See Raimund Weissbach, hatte ihm zur Linderung der Übelkeit Schnaps eingeflößt, worauf Roger Galle erbrach. Wenn das U-Boot mit etwa zehn Knoten pro Stunde an der Oberfläche fuhr, war das Schlingern am stärksten und seine Seekrankheit am schlimmsten. Wenn es untertauchte, bewegte es sich ruhiger, kam dafür aber langsamervorwärts. Keine Decke und kein Mantel konnten
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