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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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hervorgehen, in die Vereinigten Staaten oder in ein anderes neutrales Land geschickt werden sollten, das bereit wäre, sie aufzunehmen, auf keinen Fall jedoch nach Großbritannien, wo sie ein Schnellverfahren zu erwarten hätten. Würden die Deutschen sich an diese Abmachungen halten? Und wenn Hauptmann Nadolny, kaum waren Monteith, Bailey und er nach Irland aufgebrochen, die Irische Brigade aufgelöst und ihre Mitglieder in das Gefangenenlager von Limburg hätte verlegen lassen? Sie wären dort den Beschimpfungen und dem Hass der restlichen irischen Gefangenen ausgesetzt.
    »Ich hatte darum gebeten, seine sterblichen Überreste übergeben zu bekommen«, schreckte ihn die schmerzerfüllte Stimme des Sheriffs wieder auf. »Um ihn in Hastings kirchlich bestatten zu lassen, wo er geboren ist, wie ich, mein Vater und mein Großvater. Sie haben es nicht getan. Die Umstände des Krieges machen eine Rückführung der sterblichen Überreste unmöglich, haben sie gesagt. Verstehen Sie das mit den ›Umständen des Krieges‹?«
    Roger antwortete nicht, weil ihm klar war, dass der Wächternicht mit ihm redete, sondern seine Gegenwart nur brauchte, um mit sich selbst zu sprechen.
    »Ich weiß schon, was das heißt«, fuhr der Sheriff fort. »Dass nichts von meinem armen Sohn übrig geblieben ist. Dass eine Granate oder ein Mörser ihn in Stücke gerissen hat. An diesem verdammten Ort namens Loos. Und dass sie ihn mit zig anderen Soldaten in ein Massengrab geworfen haben. Ich werde nie wissen, wo genau er begraben liegt, ich werde nie an sein Grab treten, Blumen darauf legen und ein Gebet davor sprechen können.«
    »Das Entscheidende ist nicht das Grab, sondern Ihre Erinnerung«, sagte Roger. »Das ist es, was zählt. Wo auch immer Ihr Sohn jetzt ist, wichtig ist, dass Sie sich seiner so liebevoll erinnern.«
    Der Umriss des Sheriffs hatte sich jäh bewegt, als Rogers Stimme erklang. Womöglich hatte er ganz vergessen, dass er sich in Rogers Zelle befand.
    »Wenn ich wüsste, wo seine Mutter ist, hätte ich sie aufgesucht und ihr die Nachricht überbracht, dann hätten wir ihn zusammen beweint«, sagte der Sheriff. »Ich trage es Hortensia nicht nach, dass sie mich verlassen hat. Aber ich weiß nicht mal, ob sie noch am Leben ist. Sie hat sich kein einziges Mal nach ihrem Sohn erkundigt, nachdem sie weggegangen ist. Trotzdem war sie kein schlechter Mensch, nur eben nicht ganz richtig im Kopf.«
    Wie so oft, seit er an jenem Morgen in Tralee Bay den Schwalben gelauscht und die ersten wilden Veilchen gesehen hatte, fragte Roger sich, warum zum Teufel kein irisches Boot die Aud mit der Ausrüstung für die Volunteers erwartet, niemand Monteith, Bailey und ihn in Empfang genommen hatte. Was war geschehen? Er hatte John Devoys Eildepesche an Johann Heinrich Graf von Bernstorff und das deutsche Kanzleramt gelesen, in dem Devoy ankündigte, der Aufstand werde zwischen Karfreitag und Ostersonntag stattfinden. Weshalb die Gewehre unbedingt am 20. April in Fenit Pier eintreffen müssten, wo sie von den Booten der Volunteers und einemerfahrenen Schiffsführer übernommen werden würden. Dieselben dringenden Anweisungen wurden von Joseph Plunkett in einem Schreiben vom 5. April an den deutschen Geschäftsträger in Bern wiederholt und von diesem an Kanzleramt und Heeresleitung in Berlin übermittelt: Die Waffen sollten am Abend des 20. April in Tralee Bay eintreffen, nicht früher und nicht später. Und sowohl die Aud als auch das U 19 waren pünktlich am vereinbarten Ort. Was zur Hölle war passiert? Warum hatte sie niemand erwartet? Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen, derentwegen er jetzt im Gefängnis versauerte und die zum Scheitern des Aufstandes mit beigetragen hatte? Denn nach dem, was er von Basil Thomson und Reginald Hall im Laufe der Verhöre erfuhr, wurde die Aud weit nach dem vereinbarten Datum von der Royal Navy in irischen Gewässern überrascht, und der Kapitän, der das Risiko eingegangen war, auf die Volunteers zu warten, hatte sich gezwungen gesehen, sein Schiff zu versenken, mitsamt der zwanzigtausend Gewehre, zehn Maschinengewehre und fünf Millionen Patronen, die dem Aufstand, den die Engländer mit der erwartbaren Entschiedenheit niederschlugen, womöglich eine andere Wende gegeben hätten.
    Doch im Grunde konnte Roger sich ausmalen, was vorgefallen war – nichts Großartiges oder Besonderes, einfach irgendeine dumme Kleinigkeit, Nachlässigkeit, ein Gegenbefehl oder eine Uneinigkeit zwischen den Führern der

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