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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Irish Revolutionary Brotherhood . Einige, vielleicht alle, mochten ihre Meinung darüber geändert haben, welches der beste Zeitpunkt für die Ankunft der Aud sei, und ihn telegrafisch geändert haben, ohne darüber nachzudenken, dass der nach Berlin entsandte Gegenbefehl verlorengegangen sein mochte oder vielleicht erst ankam, als Frachter und U-Boot sich bereits auf hoher See befanden und wegen der miserablen Wetterbedingungen tagelang keinen Funkkontakt nach Deutschland halten konnten. Etwas in der Art musste der Grund gewesen sein. Ein Missverständnis, ein Kalkulationsfehler, irgendein Schnitzer, und eine ganze Waffenladung erster Güte sank aufden Meeresgrund, anstatt in die Hände der Volunteers zu gelangen, die dann während der einwöchigen Kämpfe auf Dublins Straßen getötet worden waren.
    Er hatte recht behalten, dass ein bewaffneter Aufstand ohne eine parallele Militäraktion Deutschlands scheitern musste. Doch er empfand darüber keine Genugtuung, er hätte sich lieber geirrt, wäre lieber unter diesen wahnwitzigen hundert Volunteers gewesen, die im Morgengrauen des 24. April das Hauptpostamt in der Sackville Street besetzten, oder unter jenen, die das Dubliner Schloss zu stürmen versuchten, oder unter denen, die das Magazine Fort in Phoenix Park in die Luft jagen wollten. Er wäre tausendmal lieber wie sie gestorben, die Waffe in der Hand – einen heldenhaften, edlen, romantischen Tod –, als schändlich auf dem Schafott wie ein gemeiner Mörder oder Vergewaltiger. So undurchführbar der Plan der Volunteers , der Irish Republican Brotherhood und der Volksarmee auch war, es musste bewegend gewesen sein – sicherlich waren den Anwesenden die Tränen gekommen –, Patrick Pearse die Proklamation der Republik Irland verlesen zu hören. Womit zumindest für den kurzen Zeitraum von sieben Tagen der »Traum des Kelten« Wirklichkeit wurde: Irland, vom britischen Besatzer befreit, war eine unabhängige Nation.
    »Er mochte meinen Beruf nicht«, tönte die Stimme des Sheriffs aus der Dunkelheit. »Insgeheim schämte er sich dafür, dass sein Vater im Gefängnis arbeitete. Die Leute glauben, dass wir Wärter selbst zu Gesetzeslosen werden, weil wir mit Verbrechern zu tun haben. Ist das nicht ungerecht? Aber diese Arbeit muss doch auch von jemandem verrichtet werden, zum Wohle der Gesellschaft! Nehmen Sie zum Beispiel Mr. John Ellis, den Henker. Er ist nebenbei Barbier in seinem Heimatdorf Rochdale, und dort redet niemand schlecht über ihn. Im Gegenteil, alle achten ihn sehr. Er kann sich vor Kundschaft kaum retten. Aber ganz bestimmt hätte mein Sohn nicht zugelassen, dass jemand schlecht über mich redet. Er hatte nicht nur Respekt vor mir. Er liebte mich auch, das weiß ich.«
    Wieder hörte Roger das erstickte Schluchzen des Wärters. War es eine Erleichterung für den Sheriff, das alles zu erzählen? Oder vergrößerte es seinen Schmerz nur? Roger fragte sich, was er tun sollte. Ihm antworten? Ihn trösten? Ihm schweigend zuhören?
    »Zu jedem Geburtstag hat er mir ein Geschenk gemacht«, sagte der Sheriff. »Sein erstes Gehalt aus der Schneiderei wollte er komplett mir geben. Ich musste ihn fast zwingen, es zu behalten. Welcher Junge bringt seinem Vater heutzutage noch so viel Respekt entgegen?«
    Der Sheriff versank in regloses Schweigen. Roger dachte, dass er nicht viel über den Aufstand erfahren hatte: die Besetzung des Hauptpostamtes, die gescheiterten Angriffe auf Schloss und Magazine Fort. Und die standrechtlichen Erschießungen der Anführer, darunter sein irischer Freund Sean McDermott, einer der ersten Dichter, der wieder auf Gälisch, geschrieben hatte. Wie viele mehr hatte man füsiliert, und wo? Direkt im Gefängnis von Kilmainham Gaol oder hatte man sie nach Richmond Barracks gebracht? Alice hatte ihm erzählt, man habe James Connolly, den Initiator des Aufstands, der wegen seiner Verletzungen nicht mehr habe stehen können, auf einem Stuhl sitzend vor das Erschießungskommando gestellt. Diese Barbaren! Die Informationen, die Roger, teilweise noch während der Kämpfe, bei den Verhören, durch seinen Anwalt, seine Schwester und Alice zugetragen wurden, ergaben kein klares Bild des Geschehens, ihm kam es vor wie ein einziges blutiges Chaos aus Bomben, Bränden und Schüssen. Flüchtige Anekdoten, Fragmente, Gesprächsfetzen, die er für sich in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen versuchte. Aus den Fragen von Thomson und Hall während der Verhöre schlussfolgerte er, dass die

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