Der Traum des Kelten
toter Mann. Er erhob sich jäh.
»Und das kann ich auch jeden Moment sein, Herr Konsul.« Paredes wischte sich beim Reden den Schweiß ab, und Roger hätte es nicht gewundert, wenn er zu schluchzen angefangen hätte. »Nur kann ich zu meinem Unglück nicht von hier weg. Ich habe Frau und Kinder, und meine einzige Einkommensquelle ist die Zeitung.«
Er entfernte sich grußlos. Wütend kehrte Roger zum Präfekten zurück. Adolfo Gamarra räumte ein, der von Paredes verfasste Bericht habe in der Tat »aus logistischen Problemen, die inzwischen glücklicherweise behoben seien«, noch nicht nach Lima geschickt werden können. Er werde aber noch in dieser Woche auf den Weg gebracht, »sicherheitshalber per Eilkurier, denn Präsident Leguía persönlich hat ihn dringlichst angefordert«.
Ähnliches widerfuhr Roger überall. Es kam ihm vor, als würden unsichtbare, heimtückische Kräfte dafür sorgen, dass er sich unaufhörlich im Kreis drehte. Alle Anträge, Versprechungen, Informationen lösten sich in Luft auf, Worte straften Taten Lügen, Taten straften Worte Lügen. Welten lagen zwischen dem, was zugesichert wurde, und dem, was wirklich geschah, wohin man sah, wurde geschwindelt und gelogen.
Die ganze Woche über bemühte er sich, Informationenüber Richter Valcárcel einzuholen, dem er ebensolche respektvolle Bewunderung und Anteilnahme empfand wie für Saldaña Roca. Man versprach, ihm zu helfen, sich zu erkundigen, eine Nachricht zu überbringen, den Richter ausfindig zu machen, schickte ihn letztlich aber nur von hier nach da, ohne dass irgendetwas dabei herauskam. Sieben Tage nach seinem Eintreffen in Iquitos wurde ihm durch die Bekanntschaft mit einem ansässigen Engländer etwas mehr Klarheit über die mehr als undurchsichtigen Verhältnisse verschafft. F. J. Harding, Geschäftsführer von John Lilly & Company , ein großer, steifer, beinahe kahlköpfiger Junggeselle, war einer der wenigen Kaufleute in Iquitos, die nicht nach dem Taktstock der Peruvian Amazon Company zu tanzen schienen.
»Niemand sagt Ihnen, was mit dem Richter geschehen ist, weil keiner in die Sache hineingezogen werden will, Sir Roger«, erklärte ihm Harding in seinem kleinen Haus nahe der Uferpromenade. An den Wänden hingen Stiche von schottischen Schlössern. Sie tranken Kokosnusssaft. »Arana hat durch seine Beziehungen in Lima erreicht, dass Richter Valcárcel abgesetzt, der Rechtsbeugung und weiß Gott welcher anderer Unterstellungen bezichtigt wurde. Sollte dieser arme Mensch noch am Leben sein, bedauert er sicherlich bitter, den größten Fehler seines Lebens begangen und diese Mission angenommen zu haben. Er hat sich in die Höhle des Löwen begeben und teuer dafür bezahlt. Offenbar war er in Lima sehr angesehen. Jetzt haben sie ihn im Morast versenkt, womöglich längst ermordet. Niemand weiß, wo er sich befindet. Hoffentlich hat er sich abgesetzt. In Iquitos ist es tabu, ihn auch nur zu erwähnen.«
Tatsächlich konnte die Geschichte dieses rechtschaffenen, mutigen Richters Carlos A. Valcárcel, der nach Iquitos kam, um die »Gräuel von Putumayo« zu untersuchen, trauriger nicht sein. Roger rekonstruierte sie im Laufe der Wochen. Als Valcárcel es gewagt hatte, einen Haftbefehl gegen zweihundertsiebenunddreißig Personen auszustellen, die nahezu alle in direkter Verbindung mit der Peruvian Amazon Company standen, versetzte das das gesamte Amazonasgebiet in Unruhe, nicht nur in Peru, sondern auch in Kolumbien und in Brasilien. Das Imperium des Julio C. Arana parierte den Schlag und holte sofort zur Gegenattacke aus. Die Polizei machte gerade neun der zweihundertsiebenunddreißig mutmaßlichen Verbrecher dingfest. Von diesen neun war nur einer von Bedeutung, Aurelio Rodríguez, einer der Stationsvorsteher in Putumayo mit einem langen Register von Entführungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Morden. Doch alle neun Verhafteten, Rodríguez eingeschlossen, präsentierten dem Obersten Gerichtshof von Iquitos ein Habeas Corpus und wurden vorläufig auf freien Fuß gesetzt, während ihre Akte geprüft wurde.
»Leider«, erklärte der Präfekt Roger mit übertrieben betrübter Miene, »haben diese gewissenlosen Bürger ihre vorläufige Freiheit ausgenutzt, um vor der Justiz zu fliehen. Wie Ihnen klar sein dürfte, wird es äußerst schwierig sein, sie im riesigen Amazonasgebiet aufzuspüren, sollte der Oberste Gerichtshof den Haftbefehl bestätigen.«
Der Gerichtshof wiederum hatte keinerlei Eile, wie Roger feststellte,
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