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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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seine Wohnung in Philbeach Gardens fahren lassen. Dort nahm er ein langes Bad, das ihn ein wenig belebte. Doch dann fühlte er sich wieder sehr erschöpft und musste sich erneut hinlegen.
    Das Foreign Office ordnete ihm einen zehntägigen Zwangsurlaub an. Er weigerte sich zunächst, London vor Erscheinen des Blauen Buches zu verlassen, aber schließlichwilligte er ein. In Begleitung von Nina, die sich in ihrer Schule beurlauben ließ, verbrachte er eine Woche in Cornwall. Er war dermaßen entkräftet, dass er sich kaum auf ein Buch zu konzentrieren vermochte. In seinem Kopf kreisten wirre Bilder. Doch der ruhige Tagesrhythmus und das gesunde Essen brachten ihn langsam wieder auf die Beine. Dank des milden Wetters konnte er ausgedehnte Spaziergänge unternehmen. Man hätte sich keinen größeren Kontrast vorstellen können als den zwischen der gefälligen Landschaft von Cornwall und dem Amazonasdschungel, und Roger fühlte sich von einer wohltuenden Gelassenheit erfüllt. Trotzdem brachten ihn die Arbeit der Bauern, die weidenden Kühe und schnaubenden Pferde in den Ställen, die weder von Raubtieren, Schlangen noch Moskitos bedroht wurden, eines Nachmittags auf den Gedanken, dass diese seit Jahrhunderten domestizierte Gegend längst keine natürliche Welt mehr war – ihre Seele verloren hatte, wie die Pantheisten sagen würden –, verglich man sie mit dem wilden, überwältigenden, unbezähmbaren Amazonasgebiet, dieser unvorhersehbaren, gefährlichen Welt, in der alles unentwegt entweder im Entstehen oder im Sterben begriffen war und man, verbunden mit der fernen Vergangenheit der Ahnen, näher am Ursprung der Menschheit lebte. Und überrascht stellte er fest, dass er, trotz allen Grauens, dessen Zeuge er geworden war, mit einiger Nostalgie daran zurückdachte.
    Das Blaue Buch wurde im Juli 1912 veröffentlicht. Vom ersten Tag an verursachte es einen Aufruhr, der sich von London aus in konzentrischen Wellen über ganz Europa ausbreitete, dann die Vereinigten Staaten und viele andere Länder der Welt, vor allem Kolumbien, Brasilien und Peru erfasste. The Times widmete ihm mehrere Seiten und einen Meinungsartikel, in dem Roger in den höchsten Tonen gelobt wurde – einmal mehr habe er wieder außergewöhnlich »große Menschlichkeit« bewiesen –, und forderte sofortige Maßnahmen gegen das britische Unternehmen und dessen Aktionäre, die finanziell von einer Industrie profitierten, in der Sklavereiund Folterung praktiziert und Eingeborenenvölker dezimiert würden.
    Was Roger allerdings am meisten bewegte, war ein Artikel seines Freundes Edmund D. Morel, der in Daily News erschien. Morel schrieb darin, er sei nie zuvor »einem Menschen mit größerer Ausstrahlung« begegnet als Roger.
    Roger war nach wie vor geradezu allergisch gegen jede Form von Öffentlichkeit um seine Person und alles andere als erfreut über all die Aufmerksamkeit, der er sich nach Möglichkeit zu entziehen versuchte. Was allerdings nicht so leicht war angesichts der zahlreichen Interviewanfragen von englischen, kontinentaleuropäischen und amerikanischen Zeitungen. Er erhielt Einladungen zu Vorträgen an Hochschulen, in politischen Clubs und religiösen und wohltätigen Einrichtungen. In Westminster Abbey wurde ein Sondergottesdienst abgehalten, bei dem der Stiftsherr Herbert Henson in seiner Predigt die Aktionäre der Peruvian Amazon Company scharf dafür kritisierte, sich mittels Sklaverei, Folter und Mord zu bereichern.
    Der Geschäftsträger Großbritanniens in Peru, Des Graz, berichtete über die Aufregung, die das Blaue Buch in Lima ausgelöst habe. Da sie ein Wirtschaftsembargo befürchtete, habe die peruanische Regierung erklärt, sie werde die angekündigten Reformen ohne Aufschub durchführen, Armee und Polizeikräfte nach Putumayo entsenden. Des Graz fügte allerdings hinzu, auch dieses Mal sei eine tatsächliche Umsetzung dieser Vorhaben unwahrscheinlich, da es Regierungskreise gebe, die das Blaue Buch als eine Verschwörung Großbritanniens zur Unterstützung der territorialen Ansprüche Kolumbiens auf Putumayo darstellten.
    Die von der britischen Bevölkerung demonstrierte Solidarität mit den Eingeborenen des Amazonasgebietes führte dazu, dass das Projekt einer katholischen Mission in Putumayo massive finanzielle Unterstützung erhielt. Die anglikanische Kirche äußerte Vorbehalte, ließ sich jedoch in zahllosen Treffen und Gesprächen und durch Briefe Rogers davon überzeugen,dass in einem Land, in dem die katholische

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