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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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sie überzeugen können? Möglicherweise nicht. Sie würden ihn so oder so als Verräter betrachten.
    »Ich tue etwas, was ich nicht tun sollte, mein Lieber«, sagte Alice mit gequältem Lächeln. »Ich bringe dir nur schlechte Nachrichten, das ist ein so pessimistischer Blick auf die Geschehnisse.«
    »Könnte man sie anders betrachten, nach allem, was geschehen ist?«
    »Doch, das kann man«, sagte Alice, leicht errötend und mit neuer Kraft in der Stimme. »Ich war auch gegen eine Erhebung unter diesen Umständen. Und doch …«
    »Und doch was, Alice?«
    »Ein paar Stunden, ein paar Tage, eine ganze Woche lang war Irland ein freies Land, mein Lieber«, sagte sie bewegt. »Eine unabhängige, eigenständige Republik mit einem Präsidenten und einer Übergangsregierung. Austin war noch nicht dort, als Patrick Pearse aus dem Hauptpostamt trat und die Proklamation verlas, in der die Unabhängigkeit Irlands und die Schaffung einer Übergangsregierung der Republik Irland erklärt wurde. Es waren offenbar nicht viele anwesend. Aber diejenigen, die dabei waren und seine Worte hörten, mussten es als einen ganz besonderen Moment empfunden haben, meinst du nicht? Ich war, wie gesagt, gegen das alles. Doch als ich die Proklamation las, musste ich weinen, wie ich noch nie in meinem Leben geweint habe. › Im Namen Gottes und der verstorbenen Generationen, von welchen unser Land seine alte Tradition der nationalen Einheit erhält, ebendieses Irland ruft durch uns seine Kinder zur Flagge und tritt für seine Freiheit ein. ‹ Du siehst, ich habe es auswendig gelernt. Und ich bedauere es zutiefst, nicht bei ihnen gewesen zu sein. Das verstehst du, nicht wahr?«
    Roger schloss die Augen. Er sah die Szene lebhaft vor sich. Oben auf den Stufen des Hauptpostamtes, unter dunklen, regenschweren Wolken, vor hundert, vielleicht zweihundert mit Gewehren, Revolvern, Messern, Hacken und Knüppeln bewaffneten Menschen, hauptsächlich Männern, aber auch einigen Frauen mit Kopftüchern, die schmale, schmächtige Gestalt von Patrick Pearse. Der sechsunddreißigjährige Pearsemit seinem stählernen Blick, durchdrungen von einem nietzeanischen Willen zur Macht, mit dem er schon immer alle Widrigkeiten bezwungen hatte, seit er mit siebzehn Jahren in die Gälische Liga eingetreten war, deren unbestrittener Anführer er bald werden sollte, ungeachtet seiner Krankheiten, der äußeren Repressionen und internen Kämpfe, mit dem er den mystischen Traum seines Lebens – ein bewaffneter Aufstand der Iren gegen ihren Unterdrücker, das Martyrium der Heiligen, um ein ganzes Volk zu erlösen – verwirklichen würde, dieser Pearse also mit seiner messianischen, von der Bedeutung des Augenblicks beseelten Stimme, die sorgfältig gewählten Worte verlesend, die einem Jahrhundert der Besatzung und Knechtschaft ein Ende bereiteten und mit denen eine neue Ära in der Geschichte Irlands begann. Roger stellte sich die andächtige Stille vor, in die hinein Pearse gesprochen haben mochte, ehe die Schüsse einsetzten und aus Dublin ein Schlachtfeld machten. Er sah die Gesichter der Volunteers vor sich, die aus den Fenstern des Postgebäudes und der umliegenden, von den Rebellen eingenommenen Häuser in Sackville Street schauten, um der schlichten Zeremonie beizuwohnen. Er hörte den Jubel, Applaus, die Vivat- und Hurraschreie, mit denen die Leute auf der Straße, in den Fenstern und auf den Dächern nach der Verlesung der sieben unterzeichnenden Namen die Proklamation feierten, und lebte den kurzen, feierlichen Moment mit, als Pearse, umgeben von den übrigen Anführern mit den Worten schloss, es gebe keine Zeit mehr zu verlieren. Alle zurück auf ihre Stellungen, gerüstet für den Kampf, die heilige Pflicht. Rogers Augen brannten. Auch er hatte zu zittern begonnen. Ehe ihm selbst die Tränen kamen, sagte er rasch:
    »Ja, es war sicherlich sehr bewegend.«
    »Es ist ein Symbol, und die Geschichte besteht aus Symbolen«, sagte Alice. »Ganz gleichgültig, ob sie Pearse, Connolly, Clarke, Plunkett, Ceannt, Diarmada und MacDonagh standrechtlich erschossen haben. Im Gegenteil, diese Erschießungen haben das Symbol mit ihrem Blut geweiht, ihm eine Aura heroischen Märtyrertums verliehen.«
    »Und genau das beabsichtigten Pearse und Plunkett«, sagte Roger. »Du hast recht, Alice. Ich wäre auch gern dabei gewesen.«
    Beinahe ebenso wie die Zeremonie auf der Treppe des Hauptpostamtes bewegte es Alice, dass so viele Mitglieder der weiblichen Rebellenorganisation Cumann

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