Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
Vom Netzwerk:
sagen?
    »Am stärksten beeindruckt haben meinen Neffen nicht die Schüsse, Bomben, Verletzten, das Blut, die Flammen und der erstickende Rauch«, fuhr Alice fort, »sondern das Chaos. Kannst du dir das vorstellen, Roger? Das heillose Chaos, das während der ganzen Woche in den Bastionen der Revolutionäre herrschte.«
    »Das Chaos?«, wiederholte Roger flüsternd. Er schloss die Augen und versuchte, es sich vorzustellen, zu sehen, zu hören.
    »Das heillose Chaos«, sagte Alice, jede Silbe betonend. »Siewaren bereit, zu sterben, und gleichzeitig erlebten sie geradezu euphorische Momente. Unglaubliche Momente. Stolz. Freiheit. Auch wenn keiner von ihnen, weder Anführer noch Kämpfende, jemals wirklich wussten, was sie taten oder überhaupt tun wollten. So sagt es Austin.«
    »Wussten sie wenigstens, dass die Waffen, auf die sie warteten, nicht eingetroffen waren?«, murmelte Roger, als er merkte, dass Alice sich in einem immer längeren Schweigen verschanzte.
    »Sie wussten rein gar nichts. Unter ihnen gingen die verrücktesten Mutmaßungen um. Niemand konnte sie widerlegen, weil niemand mit Genauigkeit wusste, wie es wirklich stand. Sie klammerten sich an die unwahrscheinlichsten Gerüchte, um glauben zu können, dass ihre verzweifelte Lage sich zum Guten wenden würde. Dass ein deutsches Heer sich Dublin näherte, zum Beispiel. Dass an verschiedenen Orten der Insel Bataillone gelandet waren und auf die Hauptstadt zumarschierten. Dass sich in allen Teilen des Landes, in Cork, Galway, Wexford, Meath, Tralee, sogar in Ulster, die Volunteers und die Bürgerarmee, dass sich Tausende erhoben, die Kasernen und Polizeiquartiere besetzt hätten und von allen Seiten nach Dublin zogen, um den Belagerten beizustehen. Halb verhungert und verdurstet, beinahe ohne Munition, lieferten sie sich einen Kampf, der auf völlig unbegründeten Hoffnungen beruhte.«
    »Ich wusste, dass das geschehen würde«, sagte Roger. »Ich kam nicht rechtzeitig, um diesem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Jetzt ist Irlands Freiheit ferner denn je.«
    »Eoin MacNeill hat versucht, sie aufzuhalten, als er dahinterkam«, sagte Alice. »Das Militärkommando der Revolutionary Brotherhood hatte ihn nicht über die Pläne informiert, weil er gegen eine bewaffnete Aktion ohne deutsche Unterstützung war. Als er erfuhr, dass die Befehlshaber der Volunteers , der Revolutionary Brotherhood und der Bürgerarmee ihre Leute für Truppenübungen am Ostersonntag mobilisierten, gab er einen Gegenbefehl, mit dem er diesen Marsch verbotund den Truppen der Volunteers untersagte, auf die Straße zu gehen, sollten sie keine anderweitigen, von ihm persönlich unterzeichneten Instruktionen erhalten. Das säte gewaltige Verwirrung. Hunderte, Tausende Volunteers wagten sich nicht aus ihren Häusern. Etliche versuchten erfolglos, Pearse, Connolly oder Clarke zu kontaktieren. So mussten diejenigen, die MacNeills Gegenbefehl befolgten, mit verschränkten Armen dasitzen, während die anderen, die ihn missachteten, niedergemetzelt wurden. Deshalb ist MacNeill inzwischen unter vielen bei Sinn Féin und den Volunteers als Verräter verhasst.«
    Sie verstummte wieder, und Roger ging seinen Gedanken nach. Eoin MacNeill ein Verräter! Was für ein Aberwitz! MacNeill, Gründer der Gälischen Liga, Herausgeber des Gaelic Journal , einer der Mitbegründer der Irish Volunteers , der sein gesamtes Leben der Pflege der irischen Sprache und Kultur gewidmet hatte. Und dieser Mann wurde jetzt beschuldigt, seine Brüder verraten zu haben, weil er einen romantischen, zum Scheitern verurteilten Aufstand verhindern wollte! Im Gefängnis war er gewiss Schikanen ausgesetzt, oder zumindest schnitten ihn die anderen irischen Nationalisten vermutlich, wie sie es üblicherweise mit Halbherzigen und Feiglingen taten. Wie schrecklich musste sich dieser friedliebende, gebildete Universitätsprofessor fühlen, der ganz in der Liebe zur Sprache, zu den Bräuchen und Traditionen seines Landes aufging. Würden ihn Fragen quälen wie: »War dieser Gegenbefehl richtig? Habe ich, der ich nur Menschenleben retten wollte, stattdessen zum Scheitern der Revolution beigetragen? Die Revolutionäre gespalten und Durcheinander verursacht?« Roger erkannte sich in Eoin MacNeill wieder. Geschichte und Umstände hatten sie in vergleichbare zwielichtige Situationen gebracht. Was wäre geschehen, wenn er nicht in Tralee verhaftet worden wäre und mit Pearse, Clarke und den übrigen Anführern hätte sprechen können? Hätte er

Weitere Kostenlose Bücher