Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
Vom Netzwerk:
englische Pariser, hatte in seinem Traum also an der Seite der Sinn Féin von Arthur Griffith, der Volksarmee von James Connolly und den Irish Volunteers von Patrick Pearse in den Straßen von Dublin für Irlands Unabhängigkeit gekämpft. Wie grotesk! Trotzdem sagte sich Roger, während er in Erwartung des Morgengrauens auf seiner Pritsche lag, dass dieser Unsinn im Grunde doch einen tieferen Sinn in sich trug; schließlich hatte sein Unbewusstes nur versucht, zweierlei zu versöhnen, das er gleichermaßen liebte und vermisste: seinen Freund und sein Land.
    Am frühen Vormittag kam der Sheriff und teilte ihm mit, er habe Besuch. Rogers Herz pochte schneller, als er den Besucherraum betrat und auf dem Bänkchen Alice Stopford Green sitzen sah. Sie stand auf, ging lächelnd auf ihn zu und umarmte ihn.
    »Alice, liebe Alice«, sagte Roger. »Wie schön, dass du nocheinmal gekommen bist! Ich dachte, ich würde dich nie wieder sehen. Zumindest nicht in dieser Welt.«
    »Es war nicht leicht, eine zweite Besuchserlaubnis zu bekommen«, sagte Alice. »Aber wie du siehst, hat meine Hartnäckigkeit schließlich gesiegt. Wenn du wüsstest, an wie viele Türen ich dafür geklopft habe.«
    Seine sonst stets so elegante Freundin trug dieses Mal ein zerknittertes Kleid und ein achtlos umgebundenes Kopftuch, aus dem einige weiße Haarsträhnen gerutscht waren. Ihre Schuhe waren dreckverkrustet. Doch nicht nur ihre Aufmachung wirkte etwas liederlich, sie machte zudem einen erschöpften und mutlosen Eindruck. Was war in den vergangenen Tagen geschehen? Hatte Scotland Yard sie wieder belästigt? Sie schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln, als hätte diese Episode keinerlei Bedeutung. Das Gnadengesuch und die bis zur nächsten Ministerratssitzung aufgeschobene diesbezügliche Entscheidung erwähnte Alice nicht. Auch Roger sprach das Thema nicht an, in der Annahme, Weiteres sei noch nicht bekannt. Dafür erzählte er ihr den albernen Traum von Herbert Ward als irischer Rebell während des Osteraufstands.
    »Es sickert immer mehr darüber durch, wie sich alles wirklich zugetragen hat«, sagte Alice. Sie klang wütend und traurig zugleich. Roger bemerkte, dass der Sheriff und der andere Wärter, die beide mit dem Rücken zu ihnen an der Tür standen, bei der Anspielung auf den irischen Aufstand eine steifere Haltung annahmen. Sicherlich spitzten sie die Ohren. Er befürchtete schon, der Sheriff würde ihnen verbieten, darüber zu sprechen, doch das tat er nicht.
    »Du hast also mehr in Erfahrung bringen können, Alice«, murmelte er.
    Sie nickte und erblasste leicht. Ihrer Antwort ging ein langes Schweigen voraus, das entweder der Unentschlossenheit entspringen mochte, ob sie ihren Freund mit einem so schmerzvollen Thema belasten durfte, oder schlicht der Schwierigkeit, einen Anfang zu machen bei dem vielen, das es zu erzählen galt. Schließlich erklärte sie ihm, es kursierten viele Versionenüber die Geschehnisse in Dublin und den anderen irischen Städten, widersprüchliche, teils wohl erfundene, übertriebene oder verklärende Berichte. Sie persönlich halte für glaubwürdig, was ihr Neffe Austin, ein Kapuzinermönch, der gerade in London eingetroffen sei, erzählt habe. Austin könne insofern aus erster Hand berichten, als er während der Osterwoche in Dublin als Krankenpfleger und Seelsorger sowohl im Hauptpostamt gewesen sei, von dem aus Patrick Pearse und James Connolly die Erhebung befehligten, als auch in den Verschanzungen in St. Stephen’s Green, wo Gräfin Constance Markievicz in der Uniform der Volunteers mit Piratenpistole das Kommando führte, wie an den in der Jacob’s Biscuit Factory errichteten Barrikaden und in der Boland’s Mill, die die Rebellen unter Éamon de Valera besetzt hatten, ehe sie von den englischen Truppen umzingelt wurden. Bruder Austins Zeugnis schien Alice der Wahrheit am nächsten zu kommen, die vermutlich erst von künftigen Historikern festgestellt werden würde.
    Es folgte ein weiteres langes Schweigen, das Roger nicht unterbrechen wollte. Es war erst zwei Tage her, seit er Alice gesehen hatte, doch sie wirkte um Jahre gealtert. Ihre Stirn war faltenzerfurcht, und ihr Dekollete und ihre Handrücken waren plötzlich von Sommersprossen gesprenkelt. Ihre hellen Augen hatten ihren Glanz verloren. Sie machte einen tieftraurigen Eindruck, doch Roger war sich sicher, dass sie vor ihm nicht weinen würde. War das Gnadengesuch womöglich abgelehnt worden, und sie wagte nicht, es ihm zu

Weitere Kostenlose Bücher