Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
Vom Netzwerk:
härteste Probe für die Revolutionäre, die Gerechtigkeit, Wahrheit und das Gute auf ihrer Seite wähnten: zu entdecken, dass sie ihre Waffen nicht gegen die Schergen des Empire erhoben, gegen die Soldaten der Besatzerarmee, sondern gegen einfache Iren, die, vom Schmerz geblendet, in ihnen nicht die Befreier des Vaterlandes sahen, sondern die Mörder ihrer Nächsten, dieser Iren, deren einziges Verbrechen darin bestand, aus bescheidenen Verhältnissen zu stammen und Soldaten oder Polizisten geworden zu sein, weil die Armen dieser Welt damit immer ein Auskommen haben.
    »Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß, mein Lieber«, war Alice’ Kommentar. »Nicht einmal bei einer so gerechten Sache. Auch hier kommen die Grautöne hinzu.«
    Roger nickte. Er bezog die Worte seiner Freundin auf sich. So bedachtsam man seine Handlungen auch zu planen versuchte, das Leben war komplexer als alle Kalkulationen, sprengte die Schemata, und unversehens befand man sich in einer undurchsichtigen, widersprüchlichen Lage. War er nicht das lebendige Beispiel für diese Widersprüchlichkeiten? Reginald Hall und Basil Thomson, die ihn verhört hatten, waren der festen Überzeugung, er sei aus Deutschland gekommen, um die Erhebung anzuführen, die ihm doch tatsächlich von den Anführern des Aufstands bis zum letzten Moment verschwiegenworden war, weil sie wussten, dass er dagegen sein würde. Was konnte widersinniger sein?
    Würde unter den Nationalisten jetzt eine Demoralisierung einsetzen? Ihre besten Männer waren gefallen, standrechtlich erschossen oder im Gefängnis. Es würde Jahre dauern, die Unabhängigkeitsbewegung neu zu organisieren. Auf die Deutschen, in die so viele Iren, wie er selbst, ihr Vertrauen gesetzt hatten, war kein Verlass gewesen. Jahre der Opfer und Mühen für Irland waren unwiederbringlich verloren. Und er hier, in diesem englischen Gefängnis, in Erwartung einer vermutlich negativen Entscheidung über das Gnadengesuch. Wäre es nicht besser gewesen, dort zu sterben, mit all den anderen zu schießen und erschossen zu werden? So hätte sein Tod wenigstens einen Sinn gehabt, würde ihm nicht drohen, wie ein gewöhnlicher Verbrecher am Galgen erhängt zu werden. Dichter und Mystiker. Das waren sie, und so hatten sie gehandelt, indem sie den Funken der Revolution nicht in einer Kaserne oder in Dublin Castle, der Hochburg der Kolonialmacht, gezündet hatten, sondern in einem zivilen Gebäude, im frisch renovierten Postamt. Die Wahl zivilisierter Bürger, keiner Politiker oder Militärs. Sie wollten die Bevölkerung für sich gewinnen, ehe sie die englischen Soldaten besiegten. Hatte Joseph Plunkett ihm das bei ihren Gesprächen in Berlin nicht klar gesagt? Eine Rebellion von Dichtern und Mystikern, die zu Märtyrern werden wollten, um die eingeschläferten Massen aufzurütteln, die wie John Redmond an einen friedlichen Weg und den guten Willen des Empire glaubten, um Irlands Freiheit zu erreichen. Waren sie naiv oder hellsichtig gewesen?
    Er seufzte, und Alice tätschelte ihm liebevoll den Arm.
    »Es ist traurig und aufregend zugleich, nicht wahr, lieber Roger?«
    »Ja, Alice. Traurig und aufregend. Manchmal bin ich so wütend über das, was sie getan haben. Dann wieder beneide ich sie aus tiefster Seele, und meine Bewunderung für sie kennt keine Grenzen.«
    »Um die Wahrheit zu sagen, denke ich an nichts anderes mehr. Und daran, wie sehr ich dich vermisse, Roger«, sagte Alice und griff wieder nach seinem Arm. »Deine Ideen, deine Klarsichtigkeit würden mir sehr helfen, Licht in dieses große Dunkel zu bringen. Trotzdem glaube ich, dass all das, vielleicht nicht gleich, aber auf längere Sicht, doch etwas Gutes hervorbringen wird. Es gibt schon erste Anzeichen.«
    Roger nickte, verstand er auch nicht ganz, was Alice meinte.
    »John Redmond und seine Anhänger verlieren in ganz Irland immer mehr an Einfluss«, fuhr sie fort. »Wir, die wir einst in der Minderheit waren, haben inzwischen die Mehrheit des irischen Volkes auf unserer Seite. Auch wenn du es nicht glaubst, ich schwöre es dir. Die Erschießungen, die Militärgerichte, die Deportationen leisten uns große Dienste.«
    Roger bemerkte, dass der Sheriff, der weiterhin mit dem Rücken zu ihnen stand, leicht zuckte, als wollte er sich umdrehen und ihnen verbieten, weiterzusprechen. Doch auch diesmal tat er nichts dergleichen. Alice wirkte jetzt richtiggehend optimistisch. Ihrer Meinung nach hatten Pearse und Plunkett nicht so unrecht gehabt. Jeden Tag komme es

Weitere Kostenlose Bücher