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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Übergriffe der Mächtigen und Despoten. Würde es mit der Kampagne, die ihn als Degenerierten und Verräter verunglimpfte, gelingen, alles andere auszulöschen? Aber was machte das letztlich schon. Das wirklich Wichtige wurde dort oben entschieden, das letzte Wort hatte Gott, der sich seit einiger Zeit endlich seiner zu erbarmen begann.
    Auf seiner Pritsche liegend, dachte er mit geschlossenen Augen wieder an Joseph Conrad. Würde er sich besser fühlen, hätte der einstige Seemann das Gesuch unterzeichnet? Möglicherweise ja, vielleicht auch nicht. Was hatte Conrad an jenem Abend in seinem Häuschen in Kent gemeint, als er sagte: »Bevor ich in den Kongo fuhr, war ich bloß ein armes Tier«? Der Satz war Roger nahegegangen, auch wenn er ihn nicht ganz verstanden hatte. Was mochte er bedeuten? Vielleicht, dass jene sechs Monate am Mittel- und Oberlauf des Kongos, was er dort tat oder nicht tat, sah und hörte, in ihm tiefe Gedanken über das menschliche Dasein, die Erbsünde, das Böse, die Geschichte aufgeworfen hatten. Das konnte Roger gut verstehen. Auch ihn hatte der Kongo vermenschlicht, wenn menschlich zu sein bedeutete, die Extreme zu kennen, zu denen Vorurteile, Habsucht und Grausamkeit verleiten konnten. Der Kongo hatte ihm gezeigt, dass all dies zum Leben gehörte. Auch ihn hatte der Kongo »entjungfert«. Da erinnerte er sich, dass er mit zwanzig Jahren tatsächlich als Jungfrau nach Afrika gekommen war. War es nicht infam, dass die Presse ausgerechnet ihn als Abschaum bezeichnete, um mit den Worten des Sheriffs zu sprechen?
    Um gegen seine wachsende Niedergeschlagenheit anzukämpfen, versuchte er sich vorzustellen, welch ein Genuss es wäre, ein ausgiebiges Schaumbad zu nehmen und sich dabei an einen anderen nackten Körper zu schmiegen.

VI
    Er verließ Matadi am 5. Juni 1903 über die von Stanley gelegte Eisenbahnstrecke, an der er als junger Mann mitgearbeitet hatte. Während der zwei Tage dauernden Fahrt bis nach Léopoldville kreisten seine Gedanken darum, dass er seinerzeit der erste Weiße gewesen war, der im Nkissi schwamm, dem größten Fluss auf der Karawanenroute zwischen Manyanga und Stanley Pool. Das hatte er in seiner Leichtfertigkeit bereits in kleineren Flüssen längs des unteren und mittleren Kongos getan, im Kwilo, im Lukungu, im Mpozo und im Lunzadi, in denen es ebenfalls Krokodile gab, ohne dass ihm dabei etwas zugestoßen wäre. Doch der Nkissi war größer und reißender, beinahe hundert Meter breit und wegen seiner Nähe zum großen Katarakt voller Stromschnellen. Die Einheimischen warnten ihn, es sei riskant, die Strömung könne ihn gegen die Felskanten schmettern. Und tatsächlich fühlte Roger nach wenigen Brustzügen seine Beine von einem Sog erfasst, der ihn in die Mitte des Gewässers abtrieb, sosehr er auch versuchte, strampelnd dagegen anzuschwimmen. Als ihn die Kräfte schon verließen und er einiges Wasser geschluckt hatte, gelang es ihm, sich von einer Welle gegen das Ufer spülen zu lassen und an die Felsen zu klammern. Zerschunden kletterte er schließlich wieder die Böschung hinauf, das Herz wild pochend.
    Die nun endlich angetretene Reise dauerte drei Monate und zehn Tage. Rückblickend sagte sich Roger, dass sich in dieser Zeit sein Wesen von Grund auf verändert hatte, er zu einem anderen geworden war, deutlicher sah und verstand, was es mit dem Kongo, mit Afrika, den Menschen, dem Kolonialismus, mit Irland und dem Leben überhaupt auf sich hatte. Doch gleichzeitig brachten diese Erfahrungen auch eineschwermütige Seite in ihm hervor. In den folgenden Jahren sollte er sich in Momenten der Mutlosigkeit oft wünschen, sich nie auf diese Fahrt zum Mittel- und Oberlauf des Kongos begeben zu haben, auf der er den Vorwürfen über die Misshandlungen von Einheimischen in den Kautschukzonen nachzugehen trachtete, die in London von einigen Kirchen und dem Journalisten Edmund D. Morel erhoben wurden. Vor allem Morel hatte es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht, Leopold II. und den Kongo-Freistaat anzuprangern.
    Auf der ersten Etappe zwischen Matadi und Léopoldville überraschte ihn, wie entvölkert die Landschaft war, dass Dörfer wie Tumba, wo er eine Nacht verbrachte, und die einst so belebten Siedlungen in den Tälern von Nsele und Ndolo beinahe völlig ausgestorben dalagen, nur ein paar gespenstische Alte durch den Staub humpelten oder mit geschlossenen Augen an Baumstämmen lehnten, wie schlafend oder erloschen.
    Ein ums andere Mal betrat er in diesen drei

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