Der Traum des Kelten
Monaten und zehn Tagen menschenleere Dörfer, deren Einwohner vom Erdboden verschluckt schienen, Weiler, die er fünfzehn oder sechzehn Jahre zuvor besucht hatte, wo er übernachtet, Handel betrieben hatte und die inzwischen nicht mehr existierten. Überall wiederholte sich dieser Albtraum, an den Ufern des Kongos und seiner Nebenflüsse wie bei den Vorstößen ins Landesinnere, die Roger unternahm, um Missionare, Beamte, Offiziere und Soldaten der Force Publique zu befragen sowie die Einheimischen, mit denen er sich auf Lingala, Kikongo und Swahili oder mit der Hilfe von Dolmetschern in der jeweiligen Sprache verständigte. Wo waren all die Menschen? Er konnte sich noch gut an das Getümmel erinnern, die Kinderhorden, an tätowierte Frauen und Männer mit spitz gefeilten Schneidezähnen und Ketten aus Raubtierzähnen, die ihn umringten, begutachteten und betasteten. Wie war es möglich, dass sie sich innerhalb so weniger Jahre einfach in Luft aufgelöst hatten? Manche Dörfer waren ganz verschwunden, in anderen war die Bevölkerung auf die Hälfte, ein Drittel oder sogar ein bloßes Zehntel geschrumpft. An manchen Ortenkonnte er konkrete Zahlen erheben. Lukolela beispielsweise hatte bei Rogers Besuch 1884 über fünftausend Bewohner gezählt. Jetzt waren es gerade noch dreihundertzweiundfünfzig. Und die meisten Menschen zerrüttet von Alter oder Krankheit, so dass Roger nach einer weiteren Bestandsaufnahme zu dem Schluss kam, dass nur zweiundachtzig der Verbliebenen noch arbeitstüchtig waren. Was war mit den mehr als viertausend übrigen Einwohnern von Lukolela geschehen?
Die Erklärungen der Regierungsbeamten, der Angestellten der Kautschukunternehmen und der Offiziere der Force Publique lauteten alle gleich: Die Afrikaner stürben wie die Fliegen an Schlafkrankheit, Pocken, Typhus, Erkältung, Lungenentzündung, Malaria und anderen Plagen, ihre Körper seien infolge der schlechten Ernährung nicht gegen Krankheiten gewappnet und würden einfach dahingerafft. Und in der Tat richteten die Epidemien Verheerungen an. Vor allem die Schlafkrankheit, die, wie man wenige Jahre zuvor entdeckt hatte, von der Tsetsefliege übertragen wurde, griff über das Blut das Gehirn an und verursachte bei den Befallenen eine unheilbare Apathie und fortschreitende Lähmung. Doch zu diesem Zeitpunkt stellte Roger seine Fragen nach dem Grund für die Entvölkerung bereits nicht mehr auf der Suche nach Antworten, sondern um Bestätigung darüber zu erlangen, dass es sich bei den gängigen Erklärungen um abgekartete Lügen handelte. Er kannte die wahre Antwort inzwischen nur zu gut. Die Plagen, denen ein Großteil der Einheimischen am Mittel- und Oberlauf des Kongos zum Opfer gefallen waren, hießen Habgier, Grausamkeit und Kautschuk, es war die Unmenschlichkeit des Systems und die erbarmungslose Ausbeutung der Afrikaner durch die europäischen Kolonialherren.
In Léopoldville beschloss er, kein offizielles Transportmittel in Anspruch zu nehmen, um seine unabhängige Position zu wahren und von den Behörden nicht unter Druck gesetzt werden zu können. Mit Genehmigung des Foreign Office mietete er von der American Baptist Missionary Union das Dampfschiff Henry Reed mitsamt Besatzung. Die vorangehendenVerhandlungen waren ebenso langwierig gewesen wie die Beschaffung von Brennholz und Reiseproviant. So hielt er sich vom 6. Juni bis zum 2. Juli in Léopoldville auf, ehe das Schiff flussaufwärts ablegte. Doch seine Geduld zahlte sich aus. Dank der Freiheit, in seinem eigenen Schiff zu reisen, Kurs zu nehmen und anzulegen, wie es ihm beliebte, fand er Dinge heraus, die ihm unter der Ägide der Kolonialbehörde verborgen geblieben wären. Und er hätte niemals so viele Gespräche mit den Afrikanern selbst führen können, die sich ihm nur zu nähern wagten, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass er von keinem belgischen Militär oder Zivilbeamten begleitet wurde.
Léopoldville war beträchtlich gewachsen, seit Roger sechs oder sieben Jahre zuvor das letzte Mal dort gewesen war. Neben den Häusern, Warendepots, Missionen und Geschäftsstellen gab es dort nun auch ein Gericht, Zollbehörden, Läden und Märkte. Das öffentliche Leben wurde von Funktionären, Richtern, Buchhaltern, Soldaten und Offizieren beherrscht. Auf Schritt und Tritt begegnete man Priestern und Pastoren. Eine florierende Stadt, die Roger vom ersten Moment an missfiel. Obwohl man ihm keinen schlechten Empfang bereitete. Vom Gouverneur über Richter und Inspektoren bis
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