Der Traum des Kelten
hin zum Polizeichef und den protestantischen Pastoren und katholischen Missionaren, die er besuchte, begegnete ihm jedermann freundlich. Alle gaben ihm bereitwillig Auskunft, allerdings sollte er in den folgenden Wochen dahinterkommen, dass diese Auskünfte unvollständig oder schlichtweg falsch waren. Feindseligkeit und Unterdrückung waren deutlich spürbar und prägten die Stimmung. Einen sehr viel angenehmeren, weniger beklemmenden Eindruck auf ihn machte dafür Brazzaville, die Hauptstadt des französischen Kongo auf der gegenüberliegenden Flussseite, zu der er zweimal übersetzte. Vielleicht wegen der breiter angelegten Straßen und der munteren Bewohner. Hier herrschte nicht die leicht ominöse Atmosphäre von Léopoldville. In den beinahe vier Wochen, die er dort verbrachte, um die Charterkonditionen für die HenryReed auszuhandeln, erfuhr er vieles, doch er wurde das Gefühl nie los, dass niemand wirklich bis zum Grund der Dinge gelangte, dass selbst die Menschen mit den besten Absichten ihm und sich selbst etwas verheimlichten, weil sie die Konfrontation mit einer grausamen, schuldbelasteten Wahrheit fürchteten.
Sein Freund Herbert Ward würde später sagen, das sei reine Einbildung, seine Erinnerung an Léopoldville sei durch die Dinge, die er in den nachfolgenden Wochen gehört und gesehen habe, getrübt worden. Allerdings hatte er auch nicht nur schlechte Erinnerungen an seinen Aufenthalt in dieser Stadt. Bei einem seiner morgendlichen Spaziergänge etwa kam Roger einmal an der Anlegestelle vorbei, wo seine Aufmerksamkeit von zwei halbnackten jungen Schwarzen auf sich gezogen wurde, die singend ein paar Boote entluden. Beide waren schlank und geschmeidig, und der Lederschurz, den sie trugen, verhüllte kaum ihre Hinterteile. In ihren rhythmischen Bewegungen beim Hantieren mit den Bündeln lag eine natürliche Harmonie und Schönheit. Roger sah ihnen lange zu. Er bedauerte, seinen Fotoapparat nicht bei sich zu haben. Er hätte sie gern abgebildet, um sich später erinnern zu können, dass nicht alles in dieser aufstrebenden Stadt Léopoldville hässlich und schäbig war.
Als die Henry Reed am 2. Juli 1903 ablegte und die riesige glatte Süßwasserlagune von Stanley Pool durchquerte, machte Roger im klaren Morgenlicht auf der französischen Flussseite ergriffen sandige Steilhänge aus, die ihn an die Kreidefelsen von Dover erinnerten. Große, in der Sonne schimmernde Ibisse überflogen in hochmütiger Eleganz die Lagune. Beinahe den ganzen Tag über blieb die Landschaft so unveränderlich schön. Ständig deuteten Dolmetscher, Lastenträger und Machetenarbeiter aufgeregt auf die Spuren von Elefanten, Nilpferden, Büffeln und Antilopen im Uferschlamm. Rogers Bulldoge John lief fröhlich auf dem Schiff umher, immer wieder in lautes Gebell ausbrechend. Doch als sie in Tshumbiri anlegten, um Holz zu laden, ging das Temperament des Hundesmit ihm durch, und in wenigen Augenblicken biss er ein Schwein, eine Ziege und den Wächter des Gemüsegartens, den die Pastoren der baptistischen Missionsgesellschaft bestellten. Roger verteilte zur Entschädigung Geschenke.
Ab dem zweiten Tag kamen ihnen kleine Dampfschiffe und Boote entgegen, die mit Körben voller Kautschuk den Kongo nach Léopoldville hinabfuhren. Dieser Anblick sollte sie für den Rest der Reise begleiten, wie auch die in Abständen aus dem Dickicht längs des Ufers herausragenden Masten der im Bau befindlichen Telegrafenlinie und Hüttendächer von Dörfern, deren Bewohner bei ihrem Näherkommen in den Busch flüchteten. In der Folge sollte Roger, wenn er die Einheimischen eines Dorfes nach ihren Sorgen und Bedürfnissen befragen wollte, zunächst einen Dolmetscher entsenden, der den Einwohnern erklärte, dass der britische Konsul allein, nicht in Begleitung eines belgischen Offiziers war.
Am dritten Tag der Reise bekamen sie in Bolobo, wo es ebenfalls eine baptistische Missionsgesellschaft gab, einen Vorgeschmack auf das, was sie von nun an erwarten sollte. Unter den baptistischen Missionaren beeindruckte Roger vor allem die Ärztin Lily de Hailes mit ihrer Energie, Klugheit und ihrem einnehmenden Wesen. Sie war groß, unermüdlich und anspruchslos, lebte seit vierzehn Jahren im Kongo, sprach mehrere Eingeborenensprachen und leitete das Krankenhaus für Einheimische mit großer Hingabe und Effizienz. Die Einrichtung war zum Bersten voll. Als sie an den in Hängematten, Feldbetten oder auf Bastmatten liegenden Patienten vorbeigingen, stellte Roger
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