Der Traum des Kelten
Loaysa nicht. Die beiden hatten Mitte 1903 ihre denkwürdigste Ruhmestat vollbracht. Damals waren etwa achthundert Ocaima-Indiosnach La Chorrera gekommen, um körbeweise Kautschukbälle abzuliefern. Nach dem Wiegen und Einlagern zeigte der stellvertretende Vorsteher von La Chorrera, Fidel Velarde, seinem Chef Víctor Macedo, der mit Miguel Loaysa von El Encanto zusammenstand, fünfundzwanzig von der übrigen Gruppe getrennte Ocaima-Indios, die nicht das verlangte Minimum an Latex gebracht hatten. Macedo und Loaysa beschlossen, diesen Wilden eine gehörige Lektion zu erteilen. Nachdem sie ihre Aufseher – aus Barbados stammende Schwarze – angewiesen hatten, den Rest der Ocaimas mit Gewehren in Schach zu halten, befahlen sie ihren einheimischen Helfern, den sogenannten »Jungs«, die Indios in petroleumgetränkte Säcke einzuwickeln und anzuzünden. Menschlichen Fackeln gleich brannten sie lichterloh. Manchen gelang es, die Flammen zu ersticken, indem sie sich schreiend auf dem Boden wälzten, doch sie erlitten furchtbare Verbrennungen. Andere sprangen wie Feuergeschosse in den Fluss und ertranken. Die Verletzten erhielten von Macedo, Loaysa und Velarde den Gnadenschuss. Roger wurde jedes Mal übel, wenn er sich diese Szene vorstellte.
Laut Saldaña Roca taten die Vorsteher solche Dinge teils zur Abschreckung, teils aber auch aus reinem Vergnügen. Sie hatten so häufig Schläge ausgeteilt, so viel ausgepeitscht und gefoltert, dass es sie inzwischen amüsierte, anderen Leid zuzufügen, und sie darum wetteiferten, wer am brutalsten vorging. Wenn sie betrunken waren, suchten sie regelmäßig Vorwände für ihre blutigen Spielchen. Saldaña Roca zitierte einen Brief des Geschäftsführers des Unternehmens an den Stationschef Miguel Flores, in dem er ihn mahnte, »Indios nicht zu töten, als wäre es ein Sport«, wenn er doch wisse, dass ihre Arbeitskraft gebraucht werde, und er erinnerte ihn, er dürfe auf derart extreme Maßnahmen nur zurückgreifen, »wenn es wirklich nötig ist«. Miguel Flores’ Antwort verdeutlichte, dass die Wirklichkeit die Anschuldigungen noch übertraf: »Ich protestiere, denn in den letzten zwei Monaten sind in meiner Station nur zirka vierzig Indios gestorben.«
Saldaña Roca zählte die verschiedenen Formen der Bestrafung auf, der die Indios je nach Vergehen unterzogen wurden: Auspeitschen, Fußblock oder Streckbank, Abschneiden von Ohren oder Nase, Händen und Füßen, bis hin zur Ermordung durch Erhängen, Erschießen, Verbrennen oder Ertränken im Fluss. In Matanzas, versicherte er, fänden sich mehr Leichenreste von Indios als in irgendeiner anderen Station. Es ließen sich keine genauen Zahlen ermitteln, doch die Knochen müssten von Hunderten, vielleicht sogar Tausenden Opfern stammen. Der Vorsteher von Matanzas war Armando Normand, ein gerade dreiundzwanzigjähriger Mann, halb Bolivianer, halb Engländer, der vorgab, in London studiert zu haben. Seine Grausamkeit war unter den durch ihn dezimierten Huitotos zu einer »teuflischen Legende« geworden. Der Vorsteher von Abisinia, Abelardo Agüero, und sein Stellvertreter Augusto Jiménez mussten dem Unternehmen ein Bußgeld zahlen, weil sie die Indios als Zielscheibe benützt hatten und damit wider besseres Wissen und auf unverantwortliche Weise wertvolle Arbeitskräfte verschwendet hätten.
Der Kongo und das Amazonasgebiet waren zwar weit voneinander entfernt, trotzdem, schien es Roger, waren sie auf unselige Weise miteinander verbunden. Mit kleinen Variationen wiederholte sich das Grauen, stets eine Folge der Profitgier, dieser Erbsünde, diesem geheimen Antrieb der menschlichen Bosheit. Oder war da noch etwas anderes? Hatte vielleicht doch der Teufel den uralten Kampf gewonnen?
Für den morgigen Tag stand einiges an. Der Konsul hatte drei Schwarze aus Barbados mit britischer Staatsangehörigkeit in Iquitos ausfindig gemacht. Sie hatten mehrere Jahre in den Kautschukstationen von Arana gearbeitet und eingewilligt, vor der Kommission auszusagen, wenn sie dafür auf ihre Insel zurückkehren könnten.
Obwohl er kaum geschlafen hatte, wachte Roger bei Tagesanbruch auf. Er fühlte sich nicht schlecht. Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, setzte er seinen Panamahut auf, griff nach seinem Fotoapparat und verließ das Haus.Draußen schien die Sonne, der Himmel war wolkenlos, mittags würde es gewiss brütend heiß werden. Es waren bereits Menschen unterwegs, und auch die rotblaue kleine Trambahn fuhr schrillend durch die
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