Der Traum des Kelten
Stadt. Alle paar Meter boten ihm indianische Straßenhändler mit geschlitzten Augen, gelblicher Haut und geometrischen Zeichnungen auf Gesicht und Armen Obst, Getränke, Pfeile, Knüppel, Blasrohre oder lebendige Tierchen an – kleine Affen, Papageien und Eidechsen. Viele Kneipen und Restaurants hatten noch geöffnet, die meisten waren allerdings leer. Betrunkene lagen unter Palmblattdächern, alle viere von sich gestreckt, Hunde wühlten in den Abfällen. ›Diese Stadt ist ein widerliches, stinkendes Loch‹, dachte Roger. Er wanderte lange durch die lehmigen Straßen, überquerte die Plaza de Armas, kam an der Präfektur vorbei und gelangte zu einer hübschen Uferpromenade mit steinerner Balustrade, von der aus man den breiten Fluss mit seinen schwimmenden Inseln und in der Ferne, am gegenüberliegenden Ufer, eine in der Sonne glitzernde Baumreihe sah. Die Promenade mündete in einen bewachsenen Abhang, unter dem sich eine Anlegestelle befand. Mehrere barfüßige, nur mit kurzen Hosen bekleidete junge Männer waren dort dabei, Pflöcke in den Boden zu rammen. Zum Schutz gegen die Sonne trugen sie Papierhüte auf dem Kopf.
Sie wirkten nicht wie Indios, eher wie Mestizen. Einer von ihnen, noch keine zwanzig, hatte einen harmonisch gebauten, muskulösen Oberkörper. Roger zögerte einen Moment, dann trat er zu ihm, zeigte auf den Fotoapparat und fragte auf Portugiesisch:
»Dürfte ich ein Foto von Ihnen machen? Ich bezahle es auch.«
Der Junge sah ihn verständnislos an.
Roger wiederholte die Frage noch zweimal in seinem schlechten Spanisch, bis der Junge schließlich lächelte. Er tuschelte einen Moment mit den anderen, dann wandte er sich wieder Roger zu und fragte, mit den Fingern schnipsend: »Wie viel?« Roger wühlte in seinen Taschen und brachte eineHandvoll Münzen zutage. Der Blick des Jungen glitt zählend darüber.
Roger belichtete mehreren Platten mit dem Jungen, wozu dessen Freunde spöttisch lachten. Er ließ ihn den Papierhut absetzen, die Arme heben, seine Muskeln spielen und die Pose eines Diskuswerfers einnehmen. Dabei berührte er kurz den Arm des Jungen und bemerkte, dass seine Hände feucht vor Hitze und Erregung waren. Er hörte mit dem Fotografieren auf, als er sich von einer zerlumpten Kinderschar umringt sah, die ihn wie ein sonderbares Insekt betrachtete. Er gab dem Jungen die Münzen und eilte zurück zum Konsulat.
Dort saßen der Konsul und die Kommissionsmitglieder beim Frühstück. Roger nahm Platz und erklärte, er habe die Gewohnheit, den Tag mit einem ausgiebigen Spaziergang zu beginnen. Während sie den wässrigen, süßen Kaffee tranken und frittierte Yuccastreifen dazu aßen, erzählte Stirs ihnen mehr über die Schwarzen aus Barbados. Alle drei hatten in Putumayo gearbeitet, Aranas Unternehmen jedoch im Streit verlassen. Sie fühlten sich von der Peruvian Amazon Company betrogen und übervorteilt, was sich in ihren Aussagen niederschlagen würde. Er riet, die Männer nicht mit der ganzen Kommission auf einmal zu konfrontieren, weil sie sonst eingeschüchtert wären und den Mund nicht aufbekämen. Man beschloss, die Anhörungen in Gruppen vorzunehmen.
Roger und Seymour Bell begaben sich gemeinsam mit dem ersten Barbadier auf die Terrasse vor Rogers Zimmer. Doch kurz nach Beginn des Gesprächs schützte Bell Unwohlsein wegen seiner angeblichen Dehydratation vor und zog sich zurück, so dass Roger allein mit dem ehemaligen Aufseher blieb.
Er hieß Eponim Thomas Campbell und war sich seines Alters nicht ganz sicher, schätzte sich aber auf nicht älter als fünfunddreißig. Er hatte eine dichte Krause, in der einige weiße Haare schimmerten. Sein verwaschenes Hemd war offen bis zum Bauchnabel, und seine grobe, in der Taille mit einem Strick zusammengehaltene Leinenhose reichte ihm nur biszu den Knöcheln. Die riesigen verhornten Füße mit den langen Nägeln wirkten wie aus Stein. Er sprach ein stark kolonial eingefärbtes Englisch, das Roger nur mit Mühe verstand. Manchmal benutzte er auch portugiesische oder spanische Ausdrücke.
In einfachen Sätzen versicherte Roger ihm, seine Aussage würde streng vertraulich behandelt und ihm unter keinen Umständen Unannehmlichkeiten einbringen. Er selbst werde sich nicht einmal Notizen machen, sondern nur zuhören. Das Einzige, worum er ihn bitte, sei eine wahrheitsgetreue Schilderung dessen, was in Putumayo vorgegangen sei.
Sie saßen nebeneinander auf einer Bank, vor ihnen auf dem Tisch standen ein Krug Papayasaft und zwei
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