Der Traum des Schattens
Jaschbiniad– warum sollte ich hierherkommen, wenn nicht, um auch diese Stadt zu bezwingen?«
Als wäre damit alles gesagt, wandte er sich wieder der Schriftrolle zu.
Er war verrückt, aber das hatte sie ja vorher gewusst. » Das ist kein guter Zeitpunkt zum Lesen. Was kann so interessant sein, dass es dich jetzt noch wach hält?«
» Ein bisschen Geschichte«, sagte er. » Wenn ich wirklich der Herr dieser Stadt sein möchte, ist es hilfreich zu wissen, nach welchen Regeln das vor sich geht.«
» Schlaf endlich«, sagte sie. » Ich werde Wache halten.«
Sie vermochte sich kaum vorzustellen, wie müde er war nach dem Wahnsinnsritt auf den Schattenpferden, nach der Kletterei auf der Brücke. Mattim steckte die Rolle in seinen Gürtel, und fast sofort fielen ihm die Augen zu.
Hanna dagegen wanderte rastlos durch den Raum. Am liebsten hätte sie sich ebenfalls hingelegt, die Träume zugelassen. Die Wölfe warteten in ihrem Geist, und vielleicht würde auch der goldene Wolf wieder da sein und sie ansehen mit seinem Wolkenblick.
Nein, du darfst nicht schlafen. Du musst auf ihn aufpassen, für den Fall, dass der Fürst das Duell verhindern will. Bewache seinen Schlaf, der Tod kommt früh genug …
Vorsichtig, um Mattim nicht zu wecken, streckte sie sich auf den Kissen aus und betrachtete ihn.
Was würde Kunun dazu sagen, dass ich hier neben seinem Bruder liege und die Augen nicht schließen mag, damit ich ja keinen Moment verpasse? Dass ich mir wünsche, die Nacht möge nie vorübergehen? Dass morgen niemals kommen möge, weil morgen der Tag ist, an dem er stirbt?
Du hast recht, Kunun. Du würdest nichts sagen, weil du mir vertraust. Unsere Liebe ist zu groß, um wegen solcher Kleinigkeiten eifersüchtig zu sein. Mattim ist dein Bruder, und du wärst mir dankbar, weil ich über ihn wache.
» Er schläft?« Mirontschek stand an der Tür.
Heute erinnerte er nicht an einen Adler, sondern vielmehr an eine Eule mit dunklen Ringen unter den Augen. Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht wachgelegen und sich Sorgen gemacht.
Hanna stand auf. » Er träumt gerne.«
Er ist nur ein Mensch, wollte sie sagen. Bitte seid vorsichtig mit dem Schwert und tut ihm nicht weh. Aber auch der Fürst war bloß ein Mensch, sterblich und voller Angst.
» Dann weckt ihn, Prinzessin. Es ist die Stunde der Morgendämmerung. In dieser Zeit kommt der Tod wie die Morgenröte, als wollte er die Nacht mit ewigem Feuer verbrennen.«
Hanna wartete, bis Mirontschek sie wieder alleine ließ. Sie musste sich dazu überwinden, Mattim zu wecken, denn am liebsten hätte sie ihm den Moment erspart, in dem er die Augen aufschlug und sich daran erinnerte, was ihm bevorstand. Doch sobald sie ihn an der Schulter berührte, umfasste er mit beiden Händen ihren Hals und zog sie näher zu sich, um sie zu küssen. Zuerst war sie zu verdutzt, um zu reagieren, aber sobald ihre Lippen auf seine trafen, schrak sie zurück, stemmte die Hände gegen seine Brust und wand sich aus der Umarmung.
» Was fällt dir ein!«
Mattim grinste schuldbewusst. » Darf ein Todgeweihter sich nichts wünschen?«
» Du wirst nicht sterben, ich verbiete es. Aber in Zukunft benimmst du dich, haben wir uns verstanden?«
Sein Lächeln verblasste. » Ja«, sagte er, » oh Licht meines Lebens, ich bin nicht ganz so begriffsstutzig, wie du denkst.«
» Der Fürst wartet schon.«
» Dann lassen wir ihn noch eine Weile warten. Zuerst will ich meine Mutter sehen.«
Elira schlief noch. Die Jaschbiner hatten ihr ein luxuriös eingerichtetes Gemach überlassen, das alles beinhaltete, was man brauchte– sogar ein mit Gold und Mosaik verkleidetes Badebecken im Gestein.
» Leb wohl, Mutter«, flüsterte Mattim. » Ich würde dich wecken, wenn ich könnte.«
Kurz darauf führten die Diener ihn und Hanna durch die gewundene Straße, an der finster dreinblickende Krieger Spalier standen, furchteinflößende Gestalten mit Schwertern und Armbrüsten. Mirontschek wartete an der Brücke auf sie. Die fehlenden Bretter waren über Nacht ersetzt worden, und der Fürst bestätigte ihre Festigkeit, indem er sie als Erster betrat.
» Wünscht Ihr zuzusehen, Prinzessin? Ich schlage vor, dass wir ein Stück weiter hinausgehen, wo die Neigung der Brücke nicht ganz so steil ausfällt.«
Sie folgten ihm, Mattim die Hand am Schwert, während Hanna sich am Handseil entlangtastete. Ihr war alles andere als wohl bei dem Gedanken, auf dieser schwankenden Brücke zu stehen, wenn der Kampf losging, aber
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