Der Traum des Schattens
allein unter den starren Blicken der Wächter mochte sie auch nicht zurückbleiben. Hatten die Jaschbiner in der Zwischenzeit das Seil verstärkt, um die Brücke sicherer zu machen? Es kam ihr vor, als wäre es doppelt gelegt, dort wo gestern nur ein Strang gewesen war.
» Hier«, sagte der Fürst schließlich und blieb stehen. » Dürfte ich Euch bitten, Prinzessin?«
» Worum denn?«, fragte sie und trat einen Schritt vor.
Im selben Moment packte der Fürst das Handseil.
» Gute Reise!«, schrie er, und die Brücke unter ihren Füßen fiel ins Bodenlose.
Irgendwie schaffte Hanna es, nach dem Seil zu greifen, und auch Mattim sprang nach vorne und hielt sich fest, ehe sie zusammen mit der Brücke in die Tiefe schossen. Aus den Augenwinkeln sah Hanna, wie der Fürst an seinem Seil zurück zur Stadtseite schwang, während sie mitsamt der Brücke zur anderen Seite hin stürzten. Der Schrecken war zu groß, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hielt sich bloß fest, und während sie fielen, während sie endlos lange fielen, sah sie in Mattims graue Augen und fand dort ihr eigenes Entsetzen gespiegelt.
Er würde sterben. Der Aufprall der Brücke gegen die Felswand würde seinen Griff lösen und ihn ganz abstürzen lassen. Im letzten Moment drehte sie sich herum und legte ihre Hand über seine.
Der Ruck, als sie gegen die steinerne Wand krachten, schleuderte sie beide fast von der Brücke, aber Hanna war ein Schatten, sodass ihr weder Müdigkeit noch Schmerz etwas anhaben konnten. Sie krallte sich weiter fest und drückte sich und Mattim gegen das Seil und damit gegen die Bretter. Die abgetrennte Brücke schwang wieder hoch, pendelte, schaukelte im Wind. Unter ihnen war der Fluss plötzlich nah, überraschend breit, sein Rauschen dröhnte in ihren Ohren. Glühend glänzte er im Licht der Morgensonne, die über dem Gipfel emportauchte, in einem so tiefen Rot, als würde die Sonne erkalten. Der Morgen, der über der Schlucht heraufzog, war dunkler als jeder andere Tag, und dennoch brachte er Schmerz mit sich, ein Brennen, das sie bis in die Fingerspitzen erfasste.
Erst als Mattim fragte: » Was ist los, Hanna?«, merkte sie, dass sie wimmerte.
» Das Licht«, stöhnte sie.
» Du brauchst Blut? Jetzt? Kannst du dir keinen besseren Zeitpunkt aussuchen?«
Sie hingen an einem Seil, das sich abwechselnd spannte und locker schwang, über einem Fluss, der immer noch so tief unter ihnen war, dass sie bei einem Aufprall beide zerschmettert würden.
» Beiß mich, aber mach schnell.«
Für Skrupel war keine Zeit. Mit der einen Hand krallte sie sich an dem Seil fest, mit der anderen umfasste sie ihn und bohrte die Zähne in seinen Nacken. Sie trank hastig, ohne auf sein Aufstöhnen zu achten, dann erinnerte sie sich plötzlich daran, dass es nicht helfen würde. Er war kein Mensch aus ihrer Welt, sie nahm ihm nur seine Kraft… Aber zu ihrer Erleichterung ließ das Brennen nach, und als sie von ihm abließ, fühlte sie sich erfrischt und stark.
» Es wirkt.«
» Also ist mein Blut gar nicht so übel, wie? Freiwillig geopfert, das verstärkt die Wirkung noch.«
» Du bist nicht die richtige Sorte Mensch«, sagte Hanna, immer noch unter dem Eindruck dieses Wunders. » Es ist nicht das richtige Blut.«
» Anscheinend doch«, widersprach er. » Ich bin immerhin ein Lichtprinz.«
» Dann würde es hell werden. So viel weiß sogar ich.«
» Dazu brauche ich meine Lichtprinzessin.« Mattim ächzte, während er versuchte, mit den Füßen Halt zwischen den Bretterritzen zu finden. Das obere Ende der Brücke, an der sie hingen, verschwand weit über ihnen in den Wolken.
» Du hast eine Lichtprinzessin?«, fragte sie. Im Gegensatz zu ihm wagte sie nicht, sich zu bewegen. Sie krallte sich nur an dem Seil fest, zu etwas anderem war sie nicht fähig.
» Ich hatte eine. Sie wurde mir gestohlen.«
» Im Ernst? Weiß Kunun davon?«
» Oh ja«, keuchte er, während er sich einen Meter höher zog. » Das weiß er sogar ganz genau. Komm jetzt, wir haben einen weiten Weg vor uns.«
» Das schaffen wir nie im Leben.«
» Es gibt nur zwei Möglichkeiten: nach unten und nach oben. Selbst du als Schatten willst da nicht runterspringen, glaub mir.«
» Aber…«
» Du wirst nicht müde«, sagte er. » Deine Kraft lässt auch nicht nach, wenn du dich festhältst. Ich fürchte, bis wir oben sind, wirst du mir helfen müssen, statt ich dir. Bis dahin tust du einfach das, was ich sage.«
Es dauerte endlos lange: sich am Seil
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