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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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hochziehen, Halt an den Brettern finden, die klammen Finger in die Ritzen stecken, sich weiterziehen. Hanna war nicht unsportlich, sie ging gerne laufen oder schwimmen, doch klettern war nie ihr Ding gewesen. Auch Mattim war kein Experte darin. Trotzdem gelang es ihnen, sich immer höher voranzuarbeiten. Er sagte ihr, wo sie sich festhalten musste, wo sie Halt für ihre Füße finden konnte, und Hanna revanchierte sich im Gegenzug, wenn er müde wurde.
    Beim ersten Mal sagte er nicht rechtzeitig Bescheid. Seine Finger rutschten ab, und sie konnte ihn gerade noch festhalten. Einen langen Moment hingen sie zusammen da, und sie drückte ihn so fest an sich, wie sie nur konnte, nur noch zwei Finger um das Seil gekrallt. Stück für Stück arbeitete sie sich weiter hinauf, bis sie einen Knotenpunkt erreichte, an dem sie sich in eine Seilschlinge setzen konnte. Mattim hing die ganze Zeit über an ihr wie ein schwerer Sack.
    » Ruh dich aus«, befahl sie. » Jetzt hör du auch mal auf mich. Setz dich auf meinen Schoß und entspanne die Hände. Ich halte dich, keine Sorge.«
    Er atmete schwer, und er schwitzte so stark, dass er die Handflächen an seiner Hose abwischen musste. Seine Beine zitterten von der Anstrengung.
    » Beim Licht«, flüsterte er. » Wie lange noch?«
    » Sei still. Spar dir deinen Atem. Tu einfach mal gar nichts.«
    Sie hielt ihn fest– fester, als sie jemals irgendjemanden gehalten hatte. Sein Herz schlug so heftig, dass sie es an ihrer Brust spüren konnte.
    » In Ordnung«, flüsterte er irgendwann. » Weiter.«
    Sie brauchten den ganzen Tag für den Aufstieg. Der Abend versank bereits hinter den drohenden Gewitterwolken, als sie die Kante der Schlucht erreichten und darüber hinwegzogen. Mit letzter Kraft stolperten sie einige Meter weiter, als müssten sie die Bande zerreißen, die sie am Abgrund festhielten, und fielen ins Gras.
    » Beim Licht, ich hasse diesen Kerl«, sagte Mattim und fing an zu lachen, hysterisch, und sie lachte mit, genauso durchgedreht wie er, und so lagen sie da, auf dem Rücken, über sich die schwarzen Wolken, die die Nacht einfingen, und lachten, bis sie nicht mehr konnten.
    Mattim schlief, zu Tode erschöpft. Undeutlich war ihm bewusst, dass Hanna über ihn wachte. Er konnte spüren, dass sie neben ihm saß, bewegungslos wie eine Statue. Am Morgen tauchten die Schattenpferde, die ihre Stricke durchgebissen hatten, wieder auf. Er hörte, wie Hanna sie leise begrüßte. Der Graue, den er geritten hatte, knabberte an seinem Haar und pustete ihm ins Ohr, trotzdem beschloss Mattim, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sein Körper war so zerschlagen, dass jede Bewegung eine einzige Qual war.
    » Ich habe Wasser gefunden«, sagte Hanna, » und ein paar Beeren. Nicht üppig, aber ich schätze, du hast Hunger.«
    Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als er sich aufsetzte. » Danke. Ich mag Frauen, die sich ums Frühstück kümmern, während ich noch schlafe.«
    » Du elender Macho.« Sie versetzte ihm einen spielerischen Tritt und erschrak, als er aufschrie. » Was ist?«
    » Nichts. Muskelkater, schätze ich.«
    » Soll ich dir die Schultern massieren?«
    Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass das helfen würde, trotzdem hörte es sich verlockend an. » Tu dir keinen Zwang an.«
    Hanna kniete sich hinter ihn. » Zieh dein T-Shirt aus, du stinkst wie ein Iltis. Schon besser. Wow, bist du verspannt. Wenn du es zu deinem Hobby machen willst, Hängebrücken an einem Seil hochzuklettern, solltest du lieber speziell dafür trainieren.«
    » Danke für den Tipp, aber ich habe nicht die Absicht.«
    » Warum um alles in der Welt wolltest du wieder ein Mensch sein? Es ist so verdammt unpraktisch– und gefährlich außerdem.«
    » Sei froh, sonst hättest du keinen Blutspender dabei gehabt, als du einen brauchtest. Als Team sind wir unschlagbar.«
    Die Worte flogen leicht hin und her, spielerisch, wie Schneebälle. Es war fast denkbar, dass er sich umdrehte und sie küsste, doch er wagte es nicht. Ein paar Minuten knetete sie seine Schultern, und es tat so weh, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Dann wurde es langsam besser. Es war ein seltsames Gefühl– als müsste er aufgeben und sich ganz in ihre Hände fallen lassen.
    Mattim hielt still, als ihre Hand seinen Nacken berührte, leichter als eine Feder. Sie tastete sich über die Schulter den Arm hinauf, setzte die Haut in Brand, kehrte dann zurück und verweilte in seinem Haar. Endlose, köstliche Sekunden lang.

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