Der Traum des Schattens
Schulter legte. » Darf ich?«
Mattim schien sich ebenfalls nicht sonderlich zu freuen, vielleicht tat er jedoch auch nur so. » Was verschafft mir die Ehre?«
Hanna wollte, dass er lächelte. Dann war es, als würde er leuchten, und in seinen strahlenden grauen Augen wohnte eine ganze Welt. Merkwürdigerweise war sie mit Stummheit geschlagen. Krampfhaft suchte sie nach Worten, aber sie konnte ihn nur anschauen. Dabei war sie sich allzu deutlich der Stellen bewusst, an denen ihre Körper einander berührten. Er hielt beim Tanzen ihre Hand, hatte die andere Hand an ihre Taille gelegt. Es war, als würde seine Haut brennen, als würde sie sich an seiner Nähe versengen. An seinem ernsten Blick, an diesem finsteren Gesicht.
Habe ich dich verletzt?, wollte sie fragen. Habe ich dich irgendwie beleidigt? Was habe ich getan? Doch das Einzige, woran sie sich erinnerte, war die Brücke und wie sie einander geholfen hatten, aus der Schlucht herauszukommen. Erst nach der Hälfte des Liedes fiel ihr endlich ein, worüber sie reden könnten.
» Du hast gesagt, du kannst nicht tanzen. Aber du machst gar keine schlechte Figur dabei. Hast du geübt?«
» Ja«, knurrte er. Und dann lächelte er doch, jedenfalls beinahe, peinlich berührt und überwältigt von seinem eigenen Mut.
Auf einmal war es, als wären sie nie aus Jaschbiniad zurückgekommen. Die Verbundenheit war immer noch da, die Möglichkeit, gemeinsam über Dinge zu lachen, die schrecklich waren.
» Hast du es ihm gesagt?«, fragte er leise. » Ihr wirkt so vertraut miteinander. Weiß er von unserem kleinen Ausflug?«
Hanna wollte nicht über Kunun reden. Tausendmal lieber hätte sie Sätze ausgesprochen, die mit » Weißt du noch, in Jaschbiniad« begannen. Stattdessen sagte sie: » Er ist… anders als vorher. Vielleicht habe ich ihm unrecht getan. Er scheint seine Mutter wirklich zu vermissen. Mich hat er wohl auch ziemlich vermisst.«
Auf Kununs sanftere Seite ging Mattim nicht ein. » Was ist mit deiner Schramme? Wie hast du ihm die erklärt?«
» Unachtsamkeit. Ich bin eben manchmal ein richtiger Tollpatsch.«
» Vorsicht, Mundwinkel runter! Nicht dass jemand glaubt, du genießt es, mit mir zu tanzen.«
Sofort war sie wieder ernst. » Stimmt. Es ist eine unglaublich große Überwindung für mich.«
» Mein Kompliment für deine angewiderte Miene. Höchst glaubwürdig«, sagte er heiter. » Oder wir machen uns dünne, und du zeigst mir dein Zimmer. Dein strenger Herr und Meister ist gerade nirgends zu sehen, und meine böse Hexe hat sich schmollend verkrochen. Lass uns verschwinden, solange die Luft rein ist.«
» Du bist unglaublich.«
» Ja«, meinte er bescheiden, » das ist mir auch schon aufgefallen, irgendwie. Ich kann nichts dafür, es ist angeboren.«
» Ich nehme dich garantiert nicht auf mein Zimmer mit! Das hättest du wohl gerne. Und jetzt hör auf zu grinsen, sonst trete ich dir auf den Fuß.«
» Aua«, sagte er.
» Gut«, fand sie.
» Hast du überhaupt ein eigenes Zimmer?«, fragte er plötzlich, und auf einmal war da wieder dieser bittere, dunkle Zug um seinen Mund, der alles Leuchten erstickte.
» Du wirst mir sofort sagen, was los ist«, befahl Atschorek. » Bilde dir ja nicht ein, du könntest erst herkommen und dann einen Rückzieher machen. Also, was ist? Was musst du mir so dringend sagen? Egal was es ist, es wird dir Kunun nicht zurückbringen, das weißt du hoffentlich.«
Réka schrumpfte unter dem strengen Blick der schönen Schattenfrau zu einem Nichts zusammen. Sie saß auf der äußersten Kante des Sofas. Eigentlich komisch, dachte sie. Es war immer die Liebe, die sie hin und her getrieben hatte, von einer Hoffnung zur nächsten, von einer Entscheidung zur anderen. Nie hätte sie gedacht, dass die Liebe, diese verrückte, selbstmörderische, nicht auszulöschende Liebe, die ihr Leben zerstört hatte, sich in etwas anderes verwandeln könnte– in Hass.
Sie war hier, weil sie hasste, wie nie zuvor ein Mensch gehasst hatte. Und alles nur wegen Hanna.
Hanna, die es von Anfang an auf Kunun abgesehen hatte. Seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte, flüchtig bei einem Stadtbummel, hatte sie geplant, ihn zu erobern. Und Kunun hatte endlich sein wahres Gesicht gezeigt. Irgendwann kam die Wahrheit immer ans Licht, und diesmal sah die bittere, schmerzhafte Wahrheit so aus: Kunun hatte Réka nie geliebt, sonst hätte er sie nicht so gnadenlos fortjagen können. Sie hatte sogar Mattim für ihn verraten, hatte ihm seinen
Weitere Kostenlose Bücher