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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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Das wirst du ihn vermutlich nicht fragen, oder?«, fragte Mirita zweifelnd.
    » Nein«, sagte Mattim leise. Ihm war klar, dass er von Kunun nichts erfahren würde. Außerdem durfte sein Bruder auf keinen Fall wissen, worauf er aus war. » Wir könnten Atschorek fragen. Sie und Kunun stehen sich sehr nah.«
    » Sie wird sofort erraten, was du planst. Dann wird sie selbst nach diesem Kind suchen– und es womöglich umbringen!«
    » Es wird kein Kind mehr sein«, sagte Mattim leise. » Angenommen, es war vor achtzig Jahren, dann müssten wir einen alten Mann suchen. Oder eine alte Frau. Vielleicht auch schon die zweite Generation, wer weiß?«
    » An deiner Stelle würde ich Atschorek gegenüber nicht einmal Andeutungen machen«, meinte Mirita zweifelnd. » Das ist viel zu riskant.«
    » Keine Sorge, das werde ich nicht«, sagte Mattim. » Das muss jemand anders tun.«
    Die Wölfe rennen durchs Gras, und eine Stimme flüstert im Dunkeln: » Sieh hin. Sieh, was in deinem Herzen ist.«
    Draußen glommen die Lichter der Stadt auf, der Verkehr rauschte. Eine neue Sommernacht begann. Hanna hatte den heißen Nachmittag verschlafen und wusste nicht, wofür sie sich mehr schämen sollte– für diesen lächerlichen Traum oder dafür, dass sie um diese Zeit noch schlief. Hoffe ich, dass ich auf diese Weise weniger Blut brauche? Dass ich der Jagd ausweichen kann, die mein Schicksal ist? Oder dass mich das Licht im Schlaf erwischt, dass es zärtlich zum Fenster hereinkriecht und mich verbrennt, ohne dass ich es merke?
    Nein, sie war nicht lebensmüde. Noch lange nicht. Vielleicht würde das irgendwann kommen, wenn sie so alt war wie Kunun. Hundertzwanzig, mindestens. Oder hundertdreißig? Sie hatte ihn noch nicht darauf angesprochen, und sie würde ihn auch jetzt nicht damit behelligen. Kunun hasste nichts so sehr, wie ausgefragt zu werden. Weil du dich nicht verletzlich machen willst, beantwortete sie die Frage selbst. Weil du deine Seele nicht offen vor mir ausbreiten magst, wenn du dir nicht sicher sein kannst, wie ich sie behandle.
    Benommen schüttelte sie den Schlaf ab. Heute wollte sie nicht grübeln, sondern tanzen. Kunun erwartete sie in der Burg.
    Er machte eine gute Figur in seinem schwarzen Anzug. Obwohl er nur reglos im Schatten hinter der Balustrade stand, spürte sie seine dunkle Energie.
    Geschmeidig trat er neben Hanna an die Brüstung. » Nach dieser langen Trennungszeit haben wir uns ein Fest verdient.« Trotz der frohen Worte klang er verärgert. Nein, das war kein Ärger in seiner Stimme. Es war Angst. Hatten ihm die wenigen Tage ohne sie so zugesetzt? Hatte er etwa befürchtet, sie könnte nicht zu ihm zurückkehren? » Bist du glücklich?«
    Er gab ihr die Macht, ihm wehzutun. Das bedeutete ihr mehr als jede Demonstration von Stärke.
    » Ja«, flüsterte sie.
    Diesmal küsste er sie anders als sonst. Zurückhaltend, als wäre es eine Frage, deren Antwort er noch nicht kannte.
    » Meine Hanna«, flüsterte er, und sie widersprach ihm nicht. Es fühlte sich richtig an, neben ihm zu stehen und an seiner Seite die Gäste zu beobachten. Unter ihnen im Saal war das Fest in vollem Gange. Hanna stützte die Hände auf und beugte sich über das Geländer, auf der Suche nach einem blonden Haarschopf.
    » Hältst du nach jemandem Ausschau?«
    Tatsächlich, da waren sie: beide, Mirita und Mattim, Seite an Seite. Sie tanzten, Mirita den Kopf an seine Schulter gelehnt, während Mattim sich wachsam umsah. Ihre Blicke trafen sich. Hanna starrte zurück, ohne ein Zeichen, dass sie ihn kannte, dabei krampfte sich alles in ihr zusammen. Wie konnte Mattim dieses Mädchen im Arm halten, nach allem, was geschehen war? Sie rief ihre eigenen Gedanken zur Ordnung. Er ging sie nichts an, weder was er tat noch mit wem er zusammen war. Ihre Liebe gehörte Kunun, ihm und niemand sonst.
    » Er sieht ständig her«, sagte sie.
    » Lass dich nicht von ihm stören. Du bist eben sehr hübsch, deshalb kann er nicht anders.« Kunun klang zufrieden. » Willst du tanzen?«
    » Ja, möchte ich, am besten die ganze Nacht hindurch. Lass uns die anderen in Grund und Boden tanzen.«
    Hanna spürte Mattims Blicke, als sie an der Seite des Königs die Wendeltreppe in den Saal hinabstieg. » Mein Bruder ist übrigens nicht der Einzige, der gerne an meiner Stelle wäre«, sagte Kunun zufrieden. » Wenn du magst, dann gönn ihm ruhig einen Tanz. Ich habe nichts dagegen.«
    Mirita schoss giftige Blicke in ihre Richtung, als Hanna ihr die Hand auf die

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