Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
Dräng mich nicht. Ich komme schneller voran als gehofft. Die Tiere sind wundervoll.«
    Sein Vater rieb sich den Oberarm. » Wundervoll? Es sind geistesgestörte Ungeheuer. Die Narben bleiben für immer, wie ich gehört habe.«
    » Trag sie mit Stolz. Auf diesen Wahnsinn baue ich meinen Sieg.«
    » Was ist das eigentlich für ein Gerücht, dass auch Schattenwunden heilen, sofern die Finsternis groß genug ist?«, fragte Farank leise.
    » Das glaube ich nicht«, gab Mattim zurück, obwohl er es mit eigenen Augen gesehen hatte. » Dafür muss es eine andere Erklärung geben. Vielleicht ist es ja so: Egal wie dunkel es ist, irgendwo ist das Licht verborgen, das berührt und wirkt und heilt. Irgendwo ist es, mein Vater. Und wir werden es finden.«

26
    BUDAPEST, UNGARN
    Ferenc Szigethy saß vor dem Fernseher. Er bemerkte Mattim nicht, der erst an der offenen Wohnzimmertür vorbei und dann die Treppe hoch schlich. Bartók wartete unten, an die Wand gelehnt. Wie würde Ferenc wohl reagieren, wenn er sich umdrehte und den Kommissar entdeckte? Das war mal eine andere Art von Einbrecher.
    Lautlos huschte er die Stufen hinauf und betrat Rékas Zimmer. Wenn es irgendwo ein Foto von Kunun gab, dann bei ihr. Auf dem Schreibtisch stand kein Fotorahmen, auch an den Wänden hing nichts. Rasch durchsuchte er die Schubladen, danach nahm er sich den Papierkorb vor.
    Hier wurde er fündig. Dass die zerfetzten, angekohlten Stücke Reste von Fotos waren, erkannte er nur, weil er hier lange genug gewohnt hatte, um zu wissen, welche Bilder Réka besaß. Nur mehr winzige Stücke waren übrig. Sie hatte gewütet, bis sie alles vernichtet hatte, und Mattim erschrak über die Macht der Gefühle, die sich hier offenbarten, über die Verzweiflung und den Zorn.
    Ihm wurde ganz anders. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich aufrichtete und sein Blick auf den Stoß Papiere fiel, der auf dem Schreibtisch lag. Obenauf lag ein Brief, ein paar handgekritzelte Zeilen.
    Ein Abschiedsbrief.
    Mattim riss das Schreiben an sich, steckte es ein und rannte die Treppe wieder hinunter. Diesmal war ihm egal, ob er dabei polterte. Er winkte Bartók, und sie traten durch die Wand, gerade als Ferenc aus dem Wohnzimmer laut » Ist da wer?« rief. Der Schatten hielt Mattim fest am Arm, bis sie durch die Hecke waren.
    » Was ist los? Hast du das Bild?«
    » Ich habe nur das hier.« Mattim zog den Brief hervor und reichte ihn seinem Freund, der ihn rasch überflog.
    » Réka will sich umbringen? Das ist doch lächerlich. Sie ist ein Schatten.«
    » Damit bleiben ihr nicht allzu viele Möglichkeiten. Feuer oder Wasser.«
    » Wasser?«, fragte Bartók. » Der Donua ist nicht länger tödlich, also ist es die Donau auch nicht mehr. Sie kann nicht in den Fluss springen, wenn sie sterben will.«
    » Aber das weiß sie vermutlich nicht«, meinte Mattim. » Sie darf nicht rüber nach Magyria, und welcher Schatten spricht schon mit ihr? Wir müssen uns beeilen.«
    Sie rannten zum Auto. Bartók schüttelte den Kopf, als er den Motor startete. » Wir haben es nicht eilig, Mattim. Sie wird schon merken, dass sie nicht sterben kann.«
    » Fahr einfach«, befahl Mattim.
    Die Sonne, die irgendwo zwischen den Wolken unterging, tauchte das Wasser in gleißendes Rot. Ein paar vereinzelte Touristen, die sich ständig den Schweiß von der Stirn wischten, suchten auf der Brücke mit gezückten Fotoapparaten nach Motiven. Eines bot sich geradezu an: Auf dem schmalen eisernen Geländer ging ein Mädchen spazieren, die Hände zu beiden Seiten ausgestreckt.
    » Komm da runter, das ist gefährlich!«, rief jemand, und aus Rékas Kehle kam ein wilder, hysterischer Laut, der klang wie aus dem Mund einer Fremden. Das Gelächter war selbständig, hatte nichts mit ihr zu tun. Ihr war überhaupt nicht danach, zu lachen und so zu tun, als wohnte Glück im letzten Licht des Abends.
    Es hatte keinen Zweck, den Sprung hinauszuzögern. Irgendjemand rief ihren Namen, doch sie blickte nicht einmal auf. Dort unten wartete das Wasser und damit die Erlösung.
    Sie sprang, machte ihre Entscheidung unwiderruflich, in diesem Moment, und während sie schon fiel, durchfuhr sie der Schrecken. Nein, dachte sie, nein! Doch schon stürzte ihr der Fluss entgegen, die Wasseroberfläche, die zu einer steinharten, leicht aufgerauten Fläche wurde, wie zu einer gigantischen Terrassenfliese. Unmittelbar bevor sie aufschlug, um ihren Tod anzunehmen, dachte sie noch: Wie absurd, dass ich so etwas denke. An unser

Weitere Kostenlose Bücher