Der Traum des Schattens
Schwarze Bäche schienen aus ihren Augen zu rinnen, als würde sie Tinte weinen, und in ihrem Mundwinkel klebte Blut.
Die Musik lockte. In ihren Beinen zuckte der Rhythmus. Sie war nicht müde, nur innerlich erschöpft, doch zu Hause wartete ein Bett voller Albträume auf sie. Da nahm sie lieber eine doppelte Strafpredigt in Kauf.
Réka streifte die Spitzenhandschuhe ab und tauchte ihre Hände in eine Pfütze. Auf ihrem Handgelenk zeichnete sich eine Narbe ab– die Abdrücke eines Tiergebisses. Wilder, einer der Wolfsprinzen, hatte sie verwandelt, doch wenn jemand sie fragte, erzählte sie, es sei ein Hund gewesen. Sie hatte diese Lüge schon so oft ausgesprochen und ausgeschmückt, dass sie fast selbst daran glaubte. Ein riesiger Hund, rot wie ein Fuchs… Unwillkürlich hob sie den Blick und sah sich um. Manchmal fühlte sie, wie er sie aus dem Nebel heraus beobachtete, hin und wieder nahm sie seinen Geruch wahr, oder etwas huschte lautlos vorbei.
» Bist du da?«, fragte sie leise. » Wilder? Prinz Wilder?«
Natürlich kam keine Antwort aus der Dunkelheit.
Sie wusch sich das Gesicht mit dem warmen, schmutzigen Wasser. Auf ihrer Zunge brannte der Geschmack des Blutes. Salzig, metallen, bitter. Und süß, ja, vor allem das. Süß wie ein Sonnenaufgang.
Nein, sie hatte noch lange nicht genug.
Entschlossen legte sie die Hand auf die Klinke, um in den Lärm und das Gedränge einzutauchen, zurück zu Rhythmus und Tanz, zurück zu den Lebenden, als ihr Handy klingelte.
» Mária? Um Gottes willen, was ist passiert? Du wirst verfolgt? Wo bist du?«
Früher war Mária bloß ihre Babysitterin gewesen, seit längerem betrachtete Réka sie als Freundin. Wenn das so bleiben sollte, musste sie rennen wie der Wind.
Mária war der Typ schon in der Metró aufgefallen. Ein Mann um die vierzig, klein, dunkelhaarig, mit einem schmierigen Grinsen.
Sie hatte nicht zurückgelächelt. Hatte sich auch nicht umgedreht, als sie ausgestiegen war, obwohl sie seinen Blick im Nacken spürte. Im kühlen Luftzug des Ventilators, der den Fahrgästen auf der Rolltreppe entgegenwehte, war ihr Unbehagen davongewirbelt. Erst als sie in die Nachtluft hinaustrat, in diese schwülwarme Dunstglocke, die schon seit Wochen über der Stadt hing, und die Leute sich nach und nach zerstreuten, wünschte sie sich, sie hätte sich vergewissert, ob er ihr folgte. Dann wüsste sie jetzt, ob es seine Schritte waren, die sie hinter sich hörte. Leise, schleichend.
Tapp, tapp.
Sie warf einen Blick über die Schulter– da war niemand. Niemand außer ein paar Frauen, die laut miteinander schwatzend in eine andere Gasse abbogen.
Tapp, tapp.
Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
Sie blieb stehen, wandte sich langsam um. Nichts. Niemand, der sich rasch hinter einer Mülltonne oder einem Laternenpfahl verbarg. In den tiefen Pfützen spiegelte sich das pfirsichfarbene Licht.
Mária, Kind, du siehst schon überall Gespenster, schalt sie sich selbst.
Allerdings gab es Wesen auf dieser Welt, die schlimmer waren als Gespenster, das wusste sie aus eigener Erfahrung.
Sie ging weiter, alle Sinne nach hinten gerichtet. Nichts. Höchstens ein leises Rascheln, während der Wind durch die dichten Kronen der Bäume fuhr und die Regentropfen hinunterschüttelte.
Ein paar Schritte weiter fiel ihr etwas anderes ein. Was für ein Wind? Hier wehte schon seit Wochen kein Lüftchen. Sogar der Regen heute Nachmittag war schnurgerade herabgefallen, warm und stetig wie in den Tropen. Er hatte leider nicht die erhoffte Abkühlung gebracht; die Luft war schwüler als zuvor. Nie war ein Sommer schlimmer gewesen als dieser. Alle stöhnten und schwitzten. Aufgrund des Smogs durfte man sein Auto nur jeden zweiten Tag benutzen. Heute waren die geraden Kennzeichen dran. Sie kümmerte das nicht, denn weder sie noch ihre Großmutter hatte ein Auto.
Da, ein leises Knistern, ein Rauschen…
Mária fing an zu rennen. Sie lief einfach los, blindlings, von der Angst getrieben. Merkte nichts von dem Schweiß, der ihre Kleidung nach wenigen Metern durchnässte, von ihrem keuchenden Atem. Das Herz hämmerte in ihrer Brust.
Erneut Schritte. Tapp, tapp.
Sie spähte angestrengt, versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Die Laternen brannten tapfer und verströmten ihr orangegelbes Licht, das gegen die dicken Schwaden jedoch keine Chance hatte. Der Smog war anders als sonst, stank nicht nach Abgasen, sondern war wie dunkler Nebel, der sich immer mehr verdichtete. Beim Einatmen
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