Der Traum des Schattens
sich, ihr Vater würde sie einfach nur in den Arm nehmen.
» Bist du wahnsinnig? Du hättest lieber die Polizei rufen sollen!«
» Ich muss zur Schule, Papa«, erinnerte sie ihn. » Lässt du mich vorbei, damit ich mich duschen und umziehen kann? Oder soll ich etwa so gehen?«
Ihr Vater beugte sich vor und schnupperte. » Trinkst du? Oder sind da Drogen im Spiel?«
» Nein und nein.«
Sie schüttelte seine Hand ab und schleppte sich die Treppe hinauf.
Nach dem Duschen zog sie eine Hose und ein T-Shirt an. Bedauernd blickte sie auf das lange dunkelrote Kleid, das über der Stuhllehne hing– so dunkel, dass es nur rot wirkte, wenn das Licht richtig darauf fiel. Das Jäckchen aus Kunstpelz passte gut dazu. So war sie in den letzten Monaten immer zur Schule gegangen, wobei ihr egal war, ob Dorina und Valentina darüber lästerten. Sollten sie doch. Sie hatte sich wie eine Prinzessin angezogen und darauf gewartet, dass Kunun sie zu sich holte.
Aber das würde er nicht tun. Nicht nach dieser Nacht, in der sie seine Regeln verletzt hatte. Einem anderen Vampir die Beute streitig zu machen war ein ernstes Vergehen, das Konsequenzen nach sich ziehen würde. Wie würde die Strafe aussehen? Würde Kunun seine Wächter losschicken und sie verprügeln lassen, damit sie mit Verletzungen herumlaufen musste, die niemals heilten?
Réka hielt das Gesicht dicht an den Spiegel, während sie ihre rote Wange mit Abdeckcreme kaschierte und ihre Haare nach vorne zupfte.
» Endlich siehst du wieder aus wie ein Mensch!«, flüsterte Dorina, deren Rock für Schulmaßstäbe grenzwertig kurz war. Doch da es im Klassenzimmer noch heißer und stickiger war als draußen, drückten die Lehrer ein Auge zu.
» Ist die Kostümphase endlich vorbei?« Valentina musterte sie, und ihr Blick blieb an Rékas Wange hängen. » Ach, du Scheiße. Hat dein Alter…?«
» Wenigstens siehst du heute mal nicht aus, als wolltest du in die Oper«, meinte Dorina.
» Wenn ihr drei mich mit eurer Aufmerksamkeit beehren könntet?«, fragte Frau Apeler, die ihnen Erdkunde beibringen sollte.
Réka war gar nicht bewusst gewesen, dass der Unterricht schon angefangen hatte.
» Immerhin beehren wir diese Schule mit unserer Anwesenheit«, sagte Dorina, woraufhin sämtliche Mädchen in ihrer Nähe in Gelächter ausbrachen.
Die Lehrerin betrachtete Réka, runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen, besann sich dann aber und befahl der Klasse, die Bücher aufzuschlagen.
Réka wünschte sich, unsichtbar zu sein. Sie hatte so lange auffällige Gewänder getragen, dass ihr schlichtes Outfit nun genauso viel Aufmerksamkeit erregte. Ein Papierkügelchen traf sie am Rücken, einer der Jungs grinste sie an. Réka hätte zurückgelächelt, nur um Normalität zu heucheln, wenn sie nur gewusst hätte, wie man lächelte.
» Réka«, sagte Frau Apeler ungewöhnlich sanft. » Wir sind bereits auf Seite vierundfünfzig.«
Warum war sie überhaupt hier? Was kümmerte einen Schatten die Schule? Was hatte sie für eine Zukunft– mit einem Schulabschluss, einer normalen Berufsausbildung? Bis den anderen irgendwann auffiel, dass sie immer noch aussah wie fünfzehn, sechzehn? Dass jede Schramme, jede Beule bestehen blieb? Noch in hundert Jahren würde sie die rote Wange überschminken müssen. Warum sollte sie hier sitzen und sich den Kopf über Gesteinsschichten zerbrechen, während draußen ihr wahres Leben stattfand? Nein, nicht draußen, sondern hier, hinter einer Wirklichkeit, die eine andere Wirklichkeit verbarg. Magyria war so nah, dass sie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um in die andere Welt einzutreten. Sie brauchte bloß eine Pforte– und eine Einladung.
Denn kein Vampir aus dieser Welt durfte ohne Einladung nach Magyria gehen. Réka hatte sich immer als etwas Besonderes gefühlt, aber dieses Gesetz galt auch für sie. Kunun hatte kein Interesse daran, dass sie ihn besuchte. Einmal, ein einziges Mal hatte sie es versucht. Allerdings war sie gar nicht bis zu ihm durchgekommen, sondern mit einer Verwarnung wieder hinausgeworfen worden, wie ein Kind, das den Erwachsenen lästig war. Seine Schwester Atschorek hatte dafür gesorgt, dass die Wachen Réka gleich zur nächsten Pforte zurückschleiften.
» Aber er liebt mich!«, hatte sie gerufen, gebettelt, geweint. » Kunun! Er liebt mich!«
» Da irrst du dich«, hatte Atschorek geantwortet. » Und jetzt geh mir endlich aus den Augen. Verzieh dich dorthin, wo du hingehörst.«
Vielleicht hatte Kunun gar
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