Der Traum des Schattens
kein Lichtkind. Sie ist nicht deine Enkelin!«
» Wie man sieht«, meinte Kunun erleichtert. » Seit wann hilfst du Mattim? Du solltest es wirklich besser wissen.«
Réka drückte die Hand ihrer Mutter. » Lauf«, flüsterte sie. » Lauf, so schnell du kannst.«
» Nein«, protestierte Mónika.
» Bitte.« Réka versuchte, ihre ganze Seele in ihren flehenden Blick zu legen. » Jetzt sofort, für Attila. Renn!«
Rasch wandte sie sich wieder Kunun zu, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich und zwang sich, ihrer Mutter nicht nachzuschauen. Noch war dies kein endgültiger Abschied, noch konnte sie hoffen. » Was erwartest du denn? Dass ich mich vor dir in den Staub werfe und um Gnade bettele?«
Er lächelte spöttisch. » Auf einmal erinnerst du dich daran, mit wem du dich hier anlegst, wie?«
» Ich weiß, wer du bist.« Ein Mal, ein einziges Mal wenigstens, sollte er sich voll auf sie konzentrieren und alles andere vergessen. Kunun, der Jäger. Wie hatte er so schnell sein können, so unentrinnbar tödlich? Seine Schnelligkeit war bewundernswert, hätte sie nicht gerade eben ein Menschenleben gekostet. Nur wenn sie ihn lange genug aufhalten konnte, hatte ihre Mutter eine Chance. Die Wölfe schlichen herum, aber noch hatte er sie nicht ausgesandt. Unruhig warteten sie im Hintergrund ab.
» Nehmt sie fest«, befahl Kunun. » Ich will, dass du Mattim am Galgen hängen siehst, Réka, bevor du stirbst. Hier kann ich dir nichts antun, in der Stadt dagegen gibt es genug Öl, in dem selbst Schatten brennen.«
Die Männer packten sie, hart und mitleidslos, und sie zappelte chancenlos in ihrem Griff. Wenigstens konnte sie Kunun so bis zuletzt die Stirn bieten.
» Wenn ich sowieso sterben soll, dann muss ich mich auch nicht länger an deine verrückten Regeln halten. Dann kann ich Hanna genauso gut die Wahrheit sagen. Schluss mit all den Lügen!«
» Welche Lügen?«, fragte Hanna leise und sah auf. Sie kniete immer noch neben Mária.
» Dass du Mattim angeblich gar nicht kennst, beispielsweise.«
Kunun schlug das Mädchen mitten ins Gesicht. » Bringt sie weg«, befahl er, heiser vor Zorn.
» Wenn du befiehlst, müssen alle springen!«, rief Réka. Mit allem, was sie hatte, kämpfte sie gegen die Wächter, mit Fingernägeln, Tritten, Zähnen. » Ich habe es so was von satt! Kunun hat Mattim aus deinem Gedächtnis gelöscht. Wusstest du das, Hanna? Und wir sollten bezeugen, dass die neue Geschichte stimmt. Wir alle!«
» Was?«, rief Hanna. » Ist das wahr?«
Ein weiterer Schlag auf die Wange brachte Réka nicht zum Schweigen, sondern schürte nur ihre Wut. Sie spuckte ihn an. » Lügner! Betrüger! Mörder! Du irrer Psychopath!«
» Glaub ihr kein Wort«, sagte Kunun, in seinen Augen brannte das Verlangen, Réka zu töten. » Sie hat soeben versucht, alles zu zerstören. Sie hat sogar ihre Freundin in die Schusslinie gebracht.« Er legte den Arm um Hanna und zog sie hoch.
Wie betäubt hing sie an seiner Seite, ihre Augen waren groß und erschrocken. Réka hätte nicht sagen können, ob ihre Freundin um Mária trauerte oder ob sie endlich anfing, an Kunun zu zweifeln. » Hanna! Du liebst Mattim und nicht ihn! Du liebst Mattim!«
» Ich…«, stammelte Hanna und verstummte verwirrt.
» Sie lügt, denn sie kann dein Glück nicht ertragen. Gehen wir nach Akink«, ordnete Kunun an. » Dort werden heute zwei Hinrichtungen stattfinden.«
» Hanna!«, schrie Réka so laut sie konnte. » Hanna!«
Einen Moment lang stand es auf Messers Schneide, das fühlte sie. So innig waren sie miteinander verbunden, dass Réka den brennenden Zweifel spürte, die Angst, den auflodernden Zorn. Doch dann verwandelte sich Hannas Gesicht in eine undurchschaubare Maske, kühl und reglos. » Das ist dein Werk«, sagte sie leise. » Du hast Mária hergebracht. Nun musst du auch die Konsequenzen tragen.«
Im festen Griff der Wächter konnte Réka sich kaum rühren, trotzdem schaffte sie es, einen letzten bedauernden Blick auf das kleine Häuflein Mensch auf dem Bett aus Blättern und Blumen zu werfen. » Es tut mir so leid, Mária!«
» Alles in allem«, meinte Kunun, » war es ein sehr aufschlussreicher und zufriedenstellender Tag.«
Die Wölfe wiesen ihm den Weg. Mattim rannte ihnen nach, gefangen in seinem Menschenkörper und dennoch fast ebenso schnell und anmutig wie sie. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, während er über Wurzeln sprang, durch Büsche und Dornen brach. Die anderen Flusshüter hatte er längst abgehängt.
Trotzdem
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