Der Traum des Schattens
kam er zu spät.
Mária lag zusammengekrümmt da, viel kleiner, als er sie in Erinnerung hatte.
» Oh nein«, flüsterte er.
» Ist sie es?« Solta blickte ihm über die Schulter. » Das Lichtkind?«
» Sie ist tot«, sagte Mattim. » Unsere letzte Hoffnung.« Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
Ein leises Ächzen antwortete ihm.
Der Hauptmann kniete sich neben ihn, rasch untersuchte er das Mädchen. » Hier, das Messer. Es hat nicht ihr Herz getroffen, sondern ihre Lunge verletzt.« Ihre Blicke trafen sich. » Sie lebt.«
Mattim wusste, was das hieß. So erleichtert er auch war, in den Schmerz und die Sorge mischte sich Enttäuschung. Mária war nicht mit ihm verwandt, sie war zwar Magdolnas Enkelin, aber nicht Kununs. Er hatte die Lichtprinzessin seines Bruders gefunden, aber die beiden hatten nie ein Kind miteinander gehabt. Seine Suche war zu Ende.
» Sie wird sterben«, meinte der Hauptmann, » wenn wir sie nicht sofort zu einem Arzt bringen, und vielleicht selbst dann. Was sollen wir tun?«
Mattim nahm Márias Hand in seine. Kalt und leblos fühlte sie sich an.
Du musst jetzt stark sein, befahl er sich. Deine Leute sehen zu. Du wirst nicht weinen. Du wirst nicht aufgeben. Tu, was immer nötig ist, und sieh nicht zurück.
» Bela«, sagte er. » Bist du da?«
Lautlos erschien der riesige Wolf an seiner Seite.
» Beiß sie«, ordnete Mattim an.
» Was?«, keuchte Solta. » Ihr wollt diese Menschenfrau in einen Schatten verwandeln, Prinz?«
» Ich bin kein Arzt. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit sie noch hat, ob sie überhaupt eine Chance hat. Spielt es denn eine Rolle? Wenn Kunun siegt, ist bald jeder in Budapest ein Schatten. Ich muss diese Entscheidung für sie treffen. Verwandeln wir sie.«
Der Wolf senkte den Kopf, öffnete das Maul. Nahezu behutsam grub er seine scharfen Zähne in die weiße Haut des Mädchens.
Sie lag da wie eine Tote, sterbend, fast durchscheinend, das glänzende schwarze Haar wie Rabenfedern über ihren Augen.
Plötzlich setzte sie sich auf und schnappte nach Luft.
» Du bist nicht einmal in Ohnmacht gefallen«, sagte Mattim und überspielte sein Mitleid und sein Entsetzen mit einem aufmunternden Lächeln. » Sehr gut. Erinnerst du dich, was passiert ist?«
» Mattim?« Mária, die neue Schattenmária, starrte ihn an wie einen Geist. » Aber… aber der Vampir hat gesagt, du wirst hingerichtet! Du– und Réka auch.«
Mirita schleppte sich zum Fluss. Es waren nur wenige Meter, dennoch kam es ihr vor wie eine Ewigkeit. Die Schmerzen hatten nachgelassen, vielleicht weil ihr Körper endlich begriff, dass er nichts empfinden musste, vielleicht war er aber auch betäubt von zu viel Schmerz. Atschorek hatte sie buchstäblich in Stücke gehackt– beinahe. Ob sie gestorben wäre, wenn die Prinzessin ihr den Kopf abgeschlagen hätte? Dann wäre es wenigstens zu Ende gewesen. So jedoch war kaum genug an ihr dran, um ans Ufer zu gelangen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst, da Atschorek ihr die Muskeln bis auf den Knochen durchtrennt hatte. Eine Hand fehlte ihr, und wie ihr Gesicht aussah, wollte sie gar nicht erst wissen.
Trotzdem war sie innerlich ruhig. Es ist zu Ende. Mattim liebt mich nicht, er wird mich niemals lieben. Ich habe ihn verraten, und jetzt wird die Welt dunkel. Dunkler als je zuvor. Es ist richtig, dass es endet. Ich wollte nie ein Schatten sein, ich wollte nie zu dem werden, was ich bin.
Da, endlich, das Ufer. Der Boden wurde weich und feucht, Schilf versperrte ihr den Weg, die harten Halme schnitten durch ihre Haut, doch sie spürte es kaum.
Das Wasser, tödlich, befreiend, erlösend, der endgültige Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Mirita robbte hinein, wartete auf den letzten Schmerz, der alles in ihr zum Erlöschen bringen würde, das Glück und die Traurigkeit, die Angst und die Hoffnung und die Schuldgefühle.
Es geschah nichts. Das Wasser war kühl und fühlte sich dunkel an, als tauchte sie in Tinte. Kleine Wellen schwappten gegen ihr Gesicht.
Sie ließ sich vollständig hineinfallen und wartete auf den Tod.
Im Wasser war sie leicht, und sie hatte gehofft, der Tod möge ebenso leicht kommen. Doch er kam nicht. Es war an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen: Dieser Fluss war für einen Schatten nicht länger tödlich. Warum hatte ihr das niemand gesagt?
Also würde sie bis in alle Ewigkeit hier liegen. Sie hatte ihr eigenes Grab gewählt: das Flussbett. Wenigstens war es einigermaßen bequem. Hysterisch begann sie
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