Der Traum des Schattens
sie. » Außerdem ist mein Sohn ganz allein, wenn ich nicht da bin. Ich muss zurück, verstehst du? Ich darf nicht hierbleiben, ich darf auch nicht sterben, seinetwegen. Er braucht mich.«
Der Wolf hörte aufmerksam zu, ohne sie anzusehen. Sie ließ die Hand über sein Fell gleiten und dachte: Meine Güte, ich spreche mit einem Wolf.
Durch die Flammen beobachtete Réka, wie Kunun auf sie zukam. Wie immer war er in Schwarz gekleidet, jedoch nachlässiger als früher, der Mantel ausgefranst, eine Dornenranke am Kragen, Staub im Haar.
Er betrachtete sie über den Wall aus Feuer hinweg.
» Geschieht es jetzt?«, fragte sie, als sie endlich ihre Stimme wiederfand.
» Hanna holt ihre Kamera«, sagte er. » Ich will, dass du ihr die Wahrheit sagst, wenn sie zurückkommt– nicht deine Wahrheit, sondern meine. Du sollst ihr die Zweifel wieder nehmen, die du ihr eingepflanzt hast.«
Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt, doch sie fühlte sich nicht heldenhaft genug dafür, sondern klein und furchtsam. » Lässt du mich dann frei?«, bettelte sie. Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, wie sehr sie ihn geliebt hatte, doch das einzig Reale waren die Hitze des Feuers und ihre Angst davor.
» Aber natürlich«, meinte er.
Sie wusste, dass er log, auch wenn sie es gar nicht wissen wollte. Sie wollte sich an diesen Strohhalm klammern und nicht zugeben, dass es keine Hoffnung gab. Zorn flammte in ihr auf, sie schloss die Augen und dachte an Hanna, um ihre Liebe zu Mattim aufzufangen und Kunun diese Liebe als letzte Rache unter die Nase zu reiben.
Hanna… Réka konnte das Durcheinander in ihrer Freundin fühlen, den Zweifel und die Angst, die Zärtlichkeit und die Sehnsucht, doch über allem hing wie ein Banner ein Name, der das Mädchen überraschte: Attila. Es kam selten vor, dass sie Hannas Gedanken so deutlich lesen konnte.
» Attila?«, flüsterte sie verwirrt.
Hatte Hanna Angst um ihn, war er etwa in Gefahr? Wollte Atschorek ihre Drohung wahrmachen und jeden verwandeln lassen, den Réka liebte, war sie vielleicht sogar schon dabei?
» Lass ihn in Ruhe!«, zischte sie. » Finger weg von meinem kleinen Bruder!«
» Dein kleiner Bruder? Wie wahr, du hast auch einen kleinen Bruder. « Kununs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. » Sollte ich mich so getäuscht haben? Es gab nie eine Prophezeiung, nur meine runzelige, alte Geliebte, die Putzfrau der… Szigethys.« Er runzelte die Stirn.
» Die ganze Zeit über habe ich geglaubt, es ginge um Mattim. Doch der einzige kleine Bruder, der weit und breit sichtbar war, ist… Attila. Wie alt, meine liebe Réka, ist dein kleiner Bruder jetzt?«
» Er ist neun«, flüsterte Réka. » Aber was hat Attila…«
» Unterbrich mich nicht. Was heißt hier ungefähr? War er schon geboren, als mich die Alte verflucht hat? Im Februar vor knapp zehn Jahren, am fünfzehnten?«
» Am fünfzehnten?«, fragte Réka. » Das ist Attilas Geburtstag!«
» Kleiner Bruder bringt den Sieg«, flüsterte Kunun. » Damit ist nicht Mattim gemeint. Es ist nie um Mattim gegangen, sondern um Attila!« Er schrie den Namen heraus. » Dein Bruder ist das Lichtkind, das den Sieg bringen soll. Nicht mir, verstehst du? Den anderen, den Feinden! Magdolna hat es gewusst, verdammt, sie hat alles über uns gewusst, über die Familie des Lichts, über Akink und über Magyria. Ich selbst habe ihr ja alles erzählt!«
» Warum sollte Attila ein Lichtkind sein?« Réka konnte kaum klar denken, dennoch weckte dieses Rätsel sie aus ihrer Angst. » Du musst dich täuschen. Meine Eltern sind ganz normale Menschen. Ich muss es wissen, ich habe sie beide schon gebissen.«
» Und deinen Bruder?«, fragte er lauernd. » Ihn auch?«
» Nein«, stieß sie hervor. Darauf war sie stolz gewesen, die ganze Zeit. Dass sie nie, niemals ihren kleinen Bruder gebissen hatte.
» Wo ist er jetzt?«
Sie starrte Kunun an. Da erst dämmerte ihr, was sie getan hatte. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, Attilas Geburtstag zu verraten? Wie hatte sie so überaus dumm sein können, Kunun ihren Bruder auszuliefern?
» Nein!« Sie wich zurück, so weit es die Flammen zuließen. » Du wirst ihm nichts tun. Nein!«
Er lächelte, wie er immer gelächelt hatte: seidig, gelassen, im Bewusstsein seiner Überlegenheit.
» Ihr blutet«, sagte Fürst Mirontschek.
Mattim hatte bisher nichts gespürt, doch als er seinen Arm betrachtete, von dem das Blut auf den Boden tropfte, sprang ihn der Schmerz an wie ein
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