Der Traum des Schattens
kaum geschafft, mit dem Kind die Pforte im Garten zu erreichen, ohne dass Kunun dazwischengegangen wäre.
Rasch überprüften sie alle Räume.
» Kunun.« Sie hielt ihn fest, als er in den Wintergarten hinausgehen wollte. » Ich spüre keine Menschen hier. Willst du mir nicht endlich sagen, was los ist?«
Mit einigen raschen Schritten durchmaß Kunun das Erdgeschoss. » Verdammt! Jetzt überleg schon, Hanna, wo können sie sein?«
» Gut möglich, dass Attila gar nicht bei seinem Vater ist«, meinte sie. » Wenn einer der Schatten Mónika zurückgebracht hat, ist sie vielleicht in ihrer Panik mit dem Jungen geflohen und versteckt sich wer weiß wo mit ihm.– Bitte, Kunun.« Sie berührte ihn am Arm, legte alles in den liebevollsten Blick, den sie hinbekam. » Warum suchst du ihn?«
Er zögerte. Was wollte er in ihren Augen finden? Was musste sie tun, um ihn davon zu überzeugen, dass sie sein Vertrauen verdiente?
» Ich mache mir Sorgen«, sagte er schlicht. » Ich glaube nicht, dass seine Mutter wieder hier ist. Sie hätte keinen Grund, mit ihm zu fliehen. Vermutlich irrt er ganz allein durch die Stadt. Durch eine Stadt voller Schatten!«
Wie unglaublich gut er lügen konnte. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, sie hätte ihm glatt geglaubt– und ihn wegen dieser Fürsorge geliebt. Über alles geliebt.
» Hast du eine Liste seiner Spielkameraden? Seiner Verwandten?«
» Vielleicht neben dem Telefon?«
» Dann ruf sie an. Ruf sie alle an. Sofort.«
Die vielen Anrufe ergaben rein gar nichts. Während sie Attilas komplette Schulklasse durchging, telefonierte Kunun mit seinen Getreuen. » Ich brauche Réka hier, jetzt gleich. Bringt sie her.«
Hanna schob sich in sein Blickfeld. » Ich kann die Spielplätze absuchen. Ich kenne die Orte, an denen er gerne ist.«
» Ja«, sagte er zerstreut. » Tu das.«
Hanna eilte durch die Stadt. Inzwischen war es hier fast so dunkel wie in Magyria. Nebelschwaden waberten über den Straßen. Aus dem Nichts fiel ein Ziegelstein vom Himmel und schlug dicht neben ihr ein. Irgendwo weiter vor ihr hörte sie weitere Einschläge, die Alarmanlage eines Autos ging los.
Der Inhaber des Fotogeschäfts begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. » Wirklich schöne Bilder«, sagte er. » Sie haben ein Auge für Details und für deren Wirkung. Damit können Sie sich durchaus an einer Akademie bewerben.«
Hanna nahm die Mappe entgegen, nickte und bedankte sich. Dann trat sie hinaus auf die Straße.
Am liebsten wäre sie davongelaufen. Gelaufen, so wie früher, bis sich das Rauschen der Gedanken dem gleichmäßigen Heben und Senken der Füße unterordnete. Doch vor diesen Bildern konnte sie nicht davonlaufen. Was würde schlimmer sein– festzustellen, dass es gar nicht ihre Fotos waren? Dass Adrienn die Blumen in ihrem Garten geknipst hatte, preiswürdige Ansichten von Tomatenpflanzen und blühendem Borretsch?
Unter der trüben Funzel einer Straßenlaterne blieb sie stehen. Eine fremdartige Schlingpflanze wand sich um den Mast, die intensiv duftenden weißgelben Blüten verbargen sich hinter großen, fleischigen Blättern.
Entschlossen schlug sie die Mappe auf. Die neuesten Fotos begegneten ihr zuerst. Ihr Zimmer, ein kurzer Blick auf die Leere einer Wohnung, die sie nie wirklich in Besitz genommen hatte. Mattim im Park auf der Margareteninsel. Die Bilder verströmten eine verstörende Sinnlichkeit, aber auch das war nicht, wonach sie suchte.
Die nächsten Fotos waren ihr fremd. Der Himmel, golden, blass, blau, von Wolkenfetzen durchzogen. Staubwirbel schraubten sich hinein. Jetzt verstand sie das Lob des Fotografen. Die Aufnahmen waren atemberaubend. Staub, Hitze, die man förmlich spüren konnte. Hufe, Pferdebeine, ein Chaos aus der Wildheit der Landschaft und der Tiere, und mittendrin ein Mann, ursprünglich. Einer, der in seinem Tun aufging. Eine Charakterstudie inmitten eines Sturms von Licht und Staub. Ein junger Mann, konzentriert, dessen blondes Haar mit dem Sonnenlicht verschmolz. Zwischen den Pferden, dem Gras und dem Holzzaun schien er zu leuchten.
Hanna schloss die Mappe wieder und lehnte sich gegen die Laterne, während der berauschende Duft der Blüten sie umfing. Es war keine Überraschung mehr, dass Kunun sie belogen hatte. Mattim war dort gewesen, in der Puszta, bei Adrienn. An nichts davon konnte sie sich erinnern, aber nun hielt sie den Beweis in den Händen. Er war nicht verrückt. Er hatte sie nicht getäuscht. Seine Verzweiflung war echt gewesen,
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