Der Traum des Schattens
dass er ihr wehtun könnte. Nicht vor seiner Macht über alle in seiner Umgebung, auch über sie. Nicht davor, ihr eigenes Herz auseinanderzureißen, denn ein Teil davon gehörte ihm und würde ihm immer gehören.
Nur vor einem fürchtete sie sich: dass es zu spät war. Die Wahrheit zu erkennen und festzustellen, dass alles verloren war, wäre unerträglich gewesen.
» Ich möchte diesen Augenblick am liebsten festhalten«, sagte sie. » Ich wünsche mir, dass er nie endet. Wir beide hier in diesem Saal, wie wir um den Thron tanzen. Nur wir zwei, für immer und ewig, um uns die Nacht von Magyria. Zeig mir deine Hände, Kunun.«
Sanft streifte sie die Handschuhe ab, küsste seine zerstörten Finger, und er ließ es zu. Hanna fragte sich, ob die tränendurchsetzte Zärtlichkeit, die sie für ihn empfand, je aufhören würde zu schmerzen.
Die fünf Pferde donnerten über die Waldstraße. Endlos lange führte sie nach Süden durch den Dschungel, der sich weit über den Weg beugte, als wollte er ihn verschlingen. Die Schattenpferde galoppierten, als ginge es um ihr Leben, dabei waren es nur die Freude an der Bewegung und der Rausch der Geschwindigkeit, die sie anstachelten. Mattim musste sie nicht antreiben, er musste nur darauf achten, nicht von Weiras’ Rücken zu fallen. So gut es ging hatte er sich festgebunden, damit er nicht vom Pferd stürzte, wenn ihn die Müdigkeit überwältigte. Tief tauchte er das Gesicht in die flatternde schwarze Mähne.
Am Fluss, der ihren Weg kreuzte, blieben die Tiere stehen, und Mattim musste ihnen eine Weile zureden, damit sie durch das Wasser schwammen. Bevor sie ihm gehorchten, bleckten sie die Zähne und schrien, doch schließlich siegte das Zutrauen, das sie mittlerweile in ihn setzten. Danach ging es in unverminderter Geschwindigkeit weiter, die Hänge der Berge hinauf, immer höher hinauf, ohne je müde zu werden. Die beiden Grauen kannten die Strecke und stürmten mit anhaltender Begeisterung voran.
Die Nacht war von Wolfsgeheul erfüllt. Mondlicht beleuchtete das Land, doch der Mond war nicht voll, und sein Schein reichte kaum aus, um die Löcher und Stolperfallen in der steinigen Straße zu erkennen. Die Pferde ließen sich auf Mattims Befehl ein, das Tempo zu drosseln. Weiras ging mit gutem Beispiel voran, und die anderen fügten sich. Trotz seiner Eile rang Mattim sich zu einer Pause durch. Immer näher kamen die Wölfe, immer lauter wurde ihr Geheul, und die Pferde lauschten aufgeregt, angesteckt vom Gesang der Nacht. Sie fürchteten sich nicht, und fast erwartete Mattim, dass sie in die leidenschaftliche Huldigung des Mondes einstimmten.
Nach wenigen Stunden Schlaf ging der wilde Ritt weiter, immer höher bergauf, bis sie schließlich die Schlucht erreichten und Jaschbiniad auf der anderen Seite an der steilen Felswand auftauchte. Es war Vormittag, dennoch wurde es nicht richtig hell, alles war wie in einen Schleier gehüllt.
» So, meine Hübschen, meine blutrünstigen Monster«, sagte er, während er absaß und sie für den Fünfer vorbereitete.
Drei Pferde vorne, zwei hinten, dazu die langen Leinen, sogar an das traditionelle ungarische Pferdehirtenkostüm hatte er gedacht, das er nun unter ihren neugierigen Blicken anlegte. Sie waren begierig darauf, weiterzulaufen, scharrten mit den Hufen und kniffen sich gegenseitig mit ihren langen Fangzähnen.
Mattim rückte das Schwert zurecht und strich sich die Haare aus der Stirn, ehe er unruhig seine trockenen Lippen befeuchtete. Jetzt galt es. Er hatte nur diesen einen Versuch, eine einzige Gelegenheit, um das stolze Volk von Jaschbiniad zu beeindrucken. Kurz gestattete er sich, an die Menschen zu denken, die er liebte: an seinen Vater, an seine Freunde bei den Rebellen, an Bartók, seinen Fels in der Brandung, an Mónika und Attila und an Hanna, die an Kununs Seite weilte. Hanna, bei der sein Herz war und immer sein würde, seine Lichtprinzessin.
» Ich tue es auch für dich«, flüsterte er, » denn du hast das Licht immer geliebt.« Dann schob er alle Erinnerungen, alle Sorgen und Ängste, alle Hoffnung beiseite. Von jetzt an gab es nichts mehr, nur noch die Brücke und die Schattenpferde.
Er schwang sich auf einen der Pferderücken und richtete sich auf.
» Für das Licht! Und los!«
Mit einem wilden Wiehern, das wie Gelächter klang, galoppierten die Schattentiere auf die schmale Hängebrücke über den Wolken.
Die Wächter hatten Réka auf dem Marktplatz neben den Galgen gesetzt, einen Ring aus Holz um
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