Der Traum des Schattens
erlaubt gewesen wäre.
» Warte.« Ihre Gedanken jagten sich, drehten sich im Kreis… und stellten schließlich eine Idee, als wäre diese ein Wild, das Haken schlug. » Wir müssen eine neue Pforte öffnen. Hier.«
» Ohne einen Menschen?«
» Sorgt Ihr für den Wolf, ich hole die Königin.«
Schon einmal war ein Mensch aus Jaschbiniad verschwunden. Der Legende nach war der König aus Akink aus einem Turm entkommen und noch vor den Truppen zu Hause angelangt. Das hatte Kunun ihr auf der Brücke erzählt. Jedes Wort, das sie dort über der schwindelerregenden Höhe gewechselt hatten, hatte sich ihr tief eingeprägt. Wie hatte der König das damals wohl fertiggebracht, wenn nicht durch irgendjemandes Traum?
» Die Königin glaubt, dass sie träumt. Sie lebt in Träumen gefangen. Das ist die Brücke zu ihr, die Kunun für uns gebaut hat, ohne es zu ahnen.«
» Die Wölfe gehen in Träumen spazieren«, sagte Wikor. » Selbst wenn manche Schatten das ebenfalls können, was nützt es, wenn Ihr sie auf diese Weise erreicht? Ihr seid ja nicht leibhaftig da.«
» Wir gehen durch Wände und durch die Dunkelheit. Warum sollten wir nicht durch einen finsteren Traum gehen können?« Eine Erinnerung kam Hanna in den Sinn, über die sie bisher nie nachgedacht hatte. Es war, als fielen ihr Schuppen von den Augen. » Er war da, in meinem Traum. Der Herr der Wölfe. Ich dachte, ich würde bloß eine Stimme hören, aber er war wirklich da! Nicht immer auf dieselbe Weise, manchmal nur wie ein Bild oder eine Spiegelung, aber manchmal stand er auch neben meinem Bett.«
» Wer?«, fragte Wikor skeptisch. » Der Herr der Wölfe? Wer soll das sein?«
» Ich glaube, es war König Farank«, antwortete Hanna. » Ich habe ihn nie richtig gesehen, er hat sich immer im Dunkeln gehalten, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir helfen wollte, mich an meine Liebe zu Mattim zu erinnern. Er war wie ein Traumbegleiter, er hat die Wölfe in meine Träume gebracht. Er kann es, er konnte zu mir kommen, genau wie die Wölfe! Es geht, Wikor!«
» Selbst wenn Ihr es schafft, zu Elira zu gehen, wie wollt Ihr sie mitnehmen? Das ist noch etwas ganz anderes.«
» Nein, ist es nicht. Schatten können Menschen mitnehmen, wenn sie durch Pforten oder Wände gehen. Ein Mensch allein käme niemals hindurch, aber wenn der Schatten ihn an der Hand hält, dann geht es. Warum sollte es mit Träumen anders sein? Ich vermute, es hat bloß noch nie jemand versucht.«
» Dann könnten wir ja auch gleich Attila herholen!«
» Attila wird wohl kaum schlafen«, seufzte Hanna. » Leider. Elira dagegen träumt, weil sie nicht anders kann. Versuchen wir es!«
Sie war nicht sonderlich gut darin, Mauern zu durchschreiten, aber in ihren Träumen fühlte sie sich stets sicher. Wenn sie dem goldenen Wolf begegnet war, hatte sie nie das Gefühl gehabt, etwas Ungewöhnliches zu tun.
» Er hat Kununs Braut!«, schrie jemand. Zwei Schatten brachen aus dem Wald, es waren Kununs Diener. » Was tut Ihr mit ihm, dem Rebellen? Was tut Ihr hier, Prinzessin?« Offenbar hatte ihr Verrat sich noch nicht herumgesprochen.
» Das hier erledige ich«, sagte Wikor und zog sein Schwert. » Geht Ihr los und holt Elira. Ich gebe Euch Rückendeckung.«
Hanna lief nur so weit, bis das Krachen der Schwerter sie nicht allzu sehr störte. Dann lehnte sie sich gegen einen Baum und schloss die Augen.
Sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Aufgabe. Denk an Elira. Denk an die Königin, die durch die steinernen Gänge der Felsenstadt schreitet, gebeugt, mit dem Besen, und träumt. Zwischen uns ist nur ein Schleier, ein dunkler Vorhang.
Sie machte einen Schritt nach vorne– in den Traum einer Frau, die davon träumte, dass sie die Königin des Lichts war.
Elira sang. Sie schwang den Besen und sang. Sie herrschte über das Land. Sie hütete das Licht. Sie warf die Geschichten aus wie Netze, um darin das Schicksal zu fangen, das eine Schlange war, schwarz und schillernd. Nein, es war der Fluss, er wand sich und zuckte in Todesqualen wie ein Aal, den man aufs Trockene geworfen hatte. Er starb und kämpfte immer noch um sein Leben.
Er glich einer silbernen Schlange, die schrie.
» Elira«, sagte Hanna im Traum. » Das ist ein Albtraum. Sehen Sie nicht dorthin. Bitte, schauen Sie mich an.«
Die Königin hob den Kopf. Sie war überraschend jung, kaum älter als Hanna. » Der Fluss ist tot«, sagte sie. » Wie konnte das geschehen? Er darf nicht sterben, er war ein ganzes Zeitalter lang
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